TOM SCHIMMECKs ARCHIV

Chronik einer Zermürbung*

Die Demontage der Andrea Ypsilanti

Die politischen Verhältnisse könnten mich
rasend machen. Das arme Volk schleppt geduldig
den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen
ihre Affenkomödie spielen.


Georg Büchner an August Stöber,
Dezember 1833

Als alles längst vorüber ist, sitzt die Politikerin in ihrem neuen Büro, beginnt zu sortieren, was ihr da widerfahren ist. Es ist ein sehr kleines Büro. Sie ist jetzt einfache Abgeordnete, zurückgetreten von allen wichtigen Ämtern: Parteispitze, Fraktionsspitze. Sie wird Zeit brauchen, um neuen Mut zu fassen.

Anfang 2007 startete Andrea Ypsilanti als Überraschungskandidatin der hessischen SPD in einen Wahlkampfmarathon. Anfang 2008 erzielte sie einen nie für möglich gehaltenen Wahlerfolg. Anfang 2009 war sie Synonym für das Böse in der Politik. Man kann das im Büro, in der Kneipe, auf der Straße testen: Schon die Nennung des Namens Ypsilanti ruft überwiegend negativ besetzte Bilder ab und löst heftige, zumeist unschöne Reaktionen aus. Ach, die! Die ist skrupellos oder auch verträumt, werden die Leute sagen, machtgeil oder auch dilettantisch. Auf jeden Fall gescheitert.

Beiläufig erzählt sie eine Beobachtung aus ihrem ersten Wahlkampf. Während ihr Medienabbild allmählich zu einem Monstrum heranwuchs, liefen die Wahlveranstaltungen stetig besser. Eine paradoxe Situation. Die Öffentlichkeit zerbrach in zwei Sphären: die direkte Kommunikation rundum positiv, der mediale immer katastrophaler. Auch die Wähler registrierten den Kontrast. Oft kamen Menschen zu ihr, die nach ihrem ersten echten, non-medialen Ypsilanti-Erlebnis zweierlei sagten: »Ach, Sie sind ja eigentlich zierlich.« Und: »Ach, Sie sind ja eigentlich ganz nett.«

Friede den Palästen

Mit der Presse und der Politik ist das so eine Sache in Hessen. Schon Georg Büchner, der kurzzeitig beides betrieb, hatte nicht nur mit der Obrigkeit Ärger, sondern auch mit seinem Gefährten, dem Liberaldemokraten Friedrich Ludwig Weidig. Der baute auf eine Koalition mit den Reichen, stand, in den heutigen SPD-Kosmos übersetzt, irgendwo zwischen Netzwerker und Seeheimer. Der Sozialrevolutionär Büchner dagegen glaubte, dass, wer die Lage der Armen wirklich bessern wolle, kaum auf die Hilfe der »Vornehmen« werde zählen können. Als sein mit Zahlen und Fakten gespickter Hessischer Landbote (»Friede den Hütten! Krieg den Palästen!«) im Sommer 1834 in Druck ging, hatte Weidig kräftig darin herumredigiert, scharfe Passagen getilgt und Bibelworte eingestreut – auf dass die Botschaft seinen bürgerlichen Freunden nicht allzu sauer aufstoße.

Eine Pleite: Die Bürger reagierten trotzdem verstockt oder furchtsam, die meisten Bauern lieferten den Landboten brav bei der Polizei ab. Für Büchner folgten Hausdurchsuchung, Vernehmung und Flucht. Weidig traf es noch härter. Er beging, im Darmstädter Arrest von einem sadistischen Untersuchungsrichter gequält, schließlich Selbstmord. An die Reformkraft der »abgelebten modernen Gesellschaft« glaubte Büchner im Exil weniger denn je: »Zu was soll ein Ding, wie diese, zwischen Himmel und Erde herumlaufen?«, fragte er in einem Brief an einen Freund. »Das ganze Leben derselben besteht nur in Versuchen, sich die entsetzlichste Langeweile zu vertreiben. Sie mag aussterben, das ist das einzig Neue, was sie noch erleben kann.«

Hessen ist ein heißes Pflaster. Politik kann hier recht rabiat werden. Unvergessen der Ministerpräsident Holger Börner, ein Sozialdemokrat von altem Schrot und Korn, dem 1982 nichts mehr zuwider war als die frisch in den Landtag eingezogenen Grünen. Diese »Chaoten« hätte der gelernte Betonfacharbeiter Börner am liebsten »mit der Dachlatte versohlt«. Doch Hessen ist auch Wandel: 1985 wurde Joschka »Turnschuh« Fischer an seiner Seite als Vize vereidigt. Der Lärm war groß. »Börner hat die Bürger in Hessen betrogen«, schrie es aus den Schlagzeilen. Protest kam nicht nur von rechts. Auch mancher Gewerkschafter liebäugelte noch immer mit dem Holzknüppel. Umfragen ergaben: Anfangs war die aufgepeitschte Volksmeinung zu etwa zwei Dritteln gegen die neue rot-grüne Konstellation.

Schon gegen die 1969 gestartete rot-gelbe Koalition, erinnert sich die journalistische Veteranin Jutta Roitsch, »liefen die Medien, angeführt von der FAZ und dem dpa-Redakteur Konrad Adam, mit einem beispiellosen Kulturkampf Sturm. Auch damals lieferten die Wiesbadener Korrespondenten weitgehend gleichförmige Texte und Kommentare an ihre Zentralen und Redaktionen.« Quell der Empörung: Die Freidemokratin Hildegard Hamm-Brücher und der SPD-Bildungspolitiker Ludwig von Friedeburg wollten das dreigliedrige Schulsystem grundlegend reformieren und Gesamtschulen, womöglich sogar Ganztagsschulen einrichten. »Gegen den Meinungsstrom zu schwimmen«, sagt Roitsch, »war in dem engen Wiesbadener Politikgeschäft zwischen Landtag und Stammkneipe kaum auszuhalten.«

Andrea XY unbekannt

Andrea Ypsilanti, geboren 1957 in der Opel-Stadt Rüsselsheim als Andrea Dill, ist die zweite von drei Töchtern eines Werkzeugmachermeisters in der Autofabrik. Eine Arbeitertochter. Die nie die Neigung verspürte, einmal Genossin der Bosse zu werden. Nach dem Abitur arbeitete sie als Sekretärin und Stewardess, studierte später Soziologie, Politikwissenschaft und Pädagogik mit Abschluss als Diplom-Soziologin. Ihre Diplomarbeit schrieb sie über das Thema »Frauen und Macht«. 1986 trat sie in die SPD ein, war bei den Jusos aktiv. 1994 wurde sie Referatsleiterin in der Staatskanzlei des Genossen Hans Eichel, 1999 dann Landtagsabgeordnete, im März 2003 schließlich auch Vorsitzende der hessischen SPD. Als Spitzenkandidat galt da noch SPD-Fraktionschef Jürgen Walter, von manchen Medien schon mit dem Attribut »Hoffnungsträger« geschmückt. Doch der Netzwerker Walter bot in den Augen vieler Genossen keine greifbare Alternative, konnte einen CDUMinisterpräsidenten Roland Koch nicht das Fürchten lehren. Überall nannten sie ihn den »kleinen Koch«. Ypsilanti stieg selbst in den Ring, präsentierte sich der Basis. Auf einem Parteitag am 2. Dezember 2006 gewann sie knapp gegen Walter, mit 175 zu 165 Stimmen.

Anfangs wird die Neue von Medienleuten belächelt: nicht mit allen Wassern gewaschen, nicht gestählt in einer Million Gremiensitzungen. Zu ungewöhnlich, zu wenig abgeklärt, zu weiblich. »Nicht einmal die eigene Partei«, urteilt die Zeit Ende 2006, »glaubt an ihren Erfolg.«1 Diese »Ex-Stewardess« wirkt so ganz anders als die Gesichter der Schröder-SPD. Ihr »Weg in die soziale Moderne« – eine gerechtere Bildungspolitik, eine echte Energiewende, Mindestlöhne – ist in den Augen der meisten Berichterstatter linke Spinnerei. Typisch für eine, die schon 2003 die »Hartz-Reformen« als »sozial unausgewogen« kritisiert hatte.

Dann holt sie auch noch den Energiepolitiker Hermann Scheer ins Boot. Der hat zwar internationales Renommee als Sonnenenergie-Experte, wird von Tonangebern in der SPD-Bundestagsfraktion aber eher gemieden: zu öko, zu scharfzüngig, zu wenig loyal gegenüber der Führung. Die »scharf linke Spitzenkandidatin und ihre umtriebigen Spindoktoren«, enthüllt Focus im Sommer 2007, würden in einem »geheimen« Strategiepapier auf Polarisierung setzen: »Zweifel an den Fähigkeiten der Soziologin und früheren Stewardess wischen die Autoren mit deren ›Sozialkompetenz‹ vom Tisch.«2 In dem Artikel wird nicht einmal die Quelle verborgen: Es sind Genossen. »Der moderate Flügel«, kolportiert Focus, »mokiert sich über ›Altmarxisten und Ex-Jusos‹ , die sich austoben dürften.« Der »moderate Flügel« steuert sogar ein Lob für Roland Koch bei: »Der ist professionell, sie gefällt sich als Amateurin.« Man meint die zornige Erregung des unterlegenen SPD-Kandidaten zu riechen.

Gleich bei den ersten Pressekonferenzen spürt die noch unerfahrene Ypsilanti Gegenwind, eine Art »feindseliger Neugier«, sagt sie heute. Ihr Sprecher, der schon viel gesehen hat, ist verblüfft: Nie, sagt er ihr, sei ein Mann von irgendeiner Partei so gegrillt worden. Sie folgert daraus: Die kennen mich nicht. Ich muss noch besser sein, es beweisen. Das Raunen schwillt an: Die hat nichts vorzuweisen, kann nicht führen, schafft das nie. Oft scheinen die Journalisten vor allem darauf erpicht zu sein, sie in eine Ecke zu manövrieren, in der sie zugeben muss: »Das weiß ich jetzt nicht.«

Doch der Wahlkampf ist lang. Sie hat ein Jahr Zeit, auch gegen die Medien zu überzeugen. »Ich dachte: Ich geh› zu den Leuten«, sagt sie. Ypsilanti und Scheer tingeln durch alle Bürgerhäuser Hessens, manchmal 14 Stunden am Tag: »Wir mussten raus, wir mussten sagen: Guckt in unser Programm, es ist anders.« Und die Leute gucken. Viele sind angetan: Das ist nicht die kalte Asche der Schröder-SPD, die in der Großen Koalition zu Berlin vor sich hin staubt. Vor allem Jüngere engagieren sich, hängen sich rein. Eine Eigendynamik entsteht, die kein Werbebüro so planen könnte. Ypsilanti gewinnt mit ihrem Auftritt und ihren Ideen die Herzen. Als Kontrast zu Koch. Je deftiger der derbe Ministerpräsident poltert und trickst, desto sympathischer wirkt die Genossin.

Zum Ende des langen Wahlkampfes stehen die Chancen verblüffend gut. Die »Ypsilanti-SPD«, meldet die Welt ganz nervös, »klettert und klettert. Bei 29 Prozent ist sie gestartet, vor zwei Wochen lag sie bei 32 – und nun stieg sie über 35 auf 36 Prozent.« Überraschender noch: Bei einer Direktwahl lägen beide gleichauf, Koch und Ypsilanti. Für Peter Dausend von der Welt ein Zeichen, dass Republik und SPD nach links marschieren. Die Frau sei sich »nur treu geblieben« und habe doch eine schockierende Entwicklung ausgelöst: »Aus der Außenseiterin vom linken Rand ist der neue Liebling der Parteimitte geworden. Mit dem besten Ergebnis aller Bewerber wurde sie auf dem Hamburger Parteitag in das neue Präsidium gewählt.« Und um das Unerklärliche erklärbar zu machen, haut er noch eins drauf: »Aus der Schwäche eine Stärke zu machen hat im System Ypsilanti Methode. Man nehme nur ihren Namen, Überbleibsel einer frühen Ehe mit einem Griechen. Aus Schröders ›Frau XY‹ hat sie die ›Frau‹ sowie das ›X‹ gestrichen und das ›Y‹ auf Pappen kleben lassen, die willige Helfer bei ihren Veranstaltungen nun stets so geschickt gen Himmel recken, dass eine Welle aus stilisierten Siegeszeichen über der Menge wogt.«3

Auch der Spiegel will es nicht wahrhaben. Er vermeldet kurz vor der Wahl pflichtschuldigst, die Herausforderin habe den Amtsinhaber »regelrecht abhängen« können, bei Infratest dimap stehe sie schon zehn Prozent vor Koch. An ihr selber aber, befinden vier Spiegel-Herren, könne der »plötzliche Aufschwung der SPD« trotzdem »nur bedingt liegen«. Warum nicht? »Wer sie einmal beim Versuch beobachtet hat, eine Rede zu halten, der weiß: Mitreißen geht anders.«4 Ypsilanti darf einfach nicht sein: »Gewiss: Sie wirkt total nett. Wärmer als Koch, freundlicher sowieso. Aber bis zu Beginn dieses Wahlkampfs kannte man sie allenfalls als ›die Frau, die Gerhard Schröder nervte‹.« Ein weiblicher Nobody! Eine, die dem mächtigen Kanzler widersprach. Die auch im Spiegel nur als »Andrea XY unbekannt« vorkam.5 Warum nur, grübelt das Montagsmagazin, mögen Menschen eine Frau, deren »Vorzüge« derart »überschaubar« sind? Und fördert nach viel Hin und Her eine eher lauwarme Antwort zutage: »Womöglich kommt ihr in einer nach mehr Gerechtigkeit rufenden Gesellschaft ein soziales Profil zugute.«

Womöglich. Womöglich wissen diese Beobachter auch einfach nicht, wie bewegend politische Ziele sein können. Immerhin kennen sich die Spiegel-Jungs mit Machtkämpfen aus. Das ist ihr Spezialgebiet, auch innerbetrieblich. Da entwickeln sie prophetische Gaben. Sie ahnen, was passieren wird, wenn der Plan der SPD scheitert, die Linkspartei mittels einer Nie-mit-den-Linken-Rhetorik unter fünf Prozent zu drücken: »Fünf Fraktionen müssten sich dann neu sortieren und über Bündnisse verhandeln, die sie derzeit noch kategorisch ausschließen.«

Je populärer Andrea Ypsilanti wird, desto mehr Medienmenschen hat sie im Schlepptau. Am Ende sind es zwei volle Busse, Journalisten von Spanien bis Korea. Ihr nun spürbarer Erfolg dämpft die Herablassung ein wenig. Heute, meint Ypsilanti mit bedauerndem Unterton, sei sie so zynisch zu sagen: »Man muss dann ja auch hinterher auf der richtigen Seite stehen.« So einfach siegen aber darf sie nicht. Seine Selbstherrlichkeit Wolfgang Clement, Ex-Journalist, Ex-Superminister, inzwischen auch Ex-Sozialdemokrat, macht in der Welt am Sonntag eine Woche vor der Wahl die Blutgrätsche: Die Verwirklichung ihrer Energiepläne ginge »nur um den Preis der industriellen Substanz Hessens und – weil Frau Ypsilanti vermutlich darüber hinausdenkt – des ganzen Deutschland«.6 Sprich: Wenn Ypsilanti siegt, lieb Vaterland, gehen die Lichter aus.

So frech zeigt selbst der sozialdemokratisch-industrielle Komplex sich selten. Der RWE Power AG, deren Aufsichtsrat Clement schmückt, winken bei einer Laufzeitverlängerung der hessischen Atomkraftwerke Biblis A und B Milliardengewinne. Die Genossen sind sprachlos. Sie kennen ihren Clement, wissen, wie gerne er in die Rolle des Kotzbrockens schlüpft, sekundiert von seinem anwaltlichen Beistand Otto Schily. Aber dass dieser hoch bezahlte Lobbyist im Solde der Stromgiganten in der Schlussrunde eines heißen Kampfes gegen Koch nichts Besseres zu tun hat, als aus Springers dicker Berta auf die SPD-Spitzenkandidatin zu feuern, verschlägt selbst der Parteirechten kurzzeitig den Atem. Wenn ein Linker so etwas wagte, würden die Seeheimer ihn stante pede teeren, federn und füsilieren.

Ypsiland

Zum ganz großen Sieg am Sonntag darauf fehlen den Sozis 3511 Zweitstimmen. Gleichwohl ist das Ergebnis eine Sensation: Ein Sprung von 29,1 auf 36,7 Prozent – nie seit 1946 konnte die hessische SPD derart zulegen. Auch bundesweit haben Sozialdemokraten so etwas seit Jahren nicht erlebt. Roland Koch dagegen verliert 12 Prozent, stürzt aus dem Himmel der absoluten Mehrheit auf 36,8 Prozent. Ypsilanti punktet stark bei der Jugend, deutlich auch bei den 30- bis 44-Jährigen. Ihr Dilemma: Eine linke Mehrheit käme nur mit Grünen und Linkspartei zustande. Ypsilanti aber hat stets verkündet: »Keine irgendwie geartete Zusammenarbeit mit den Linken.« Eine fatale Taktik: Die Linke sollte als überflüssig erscheinen. Es war die offizielle Strategie der SPD. Am Montag darauf höhnt die Welt über die »Ministerpräsidentin der Herzen«, die zum Glück nicht regieren könne: »Ypsilantis Welt ist Ypsiland, der Ort, an dem sich die letzten 30 Jahre einfach ausblenden.«7

Die folgenden Wochen werden hart. Die FDP verweigert sich, steht in Treue fest zur CDU, kommt mit ihr jedoch auf keine Mehrheit. Ypsilanti bliebe nur eine große Koalition unter Kochs Regentschaft – er führt schließlich mit 0,1 Stimmenprozenten – oder eine rot-grün-rote Konstellation. Es ist eine Abwägung voller Tücken. Die Festlegung war eindeutig: nicht mit der Linkspartei. Andererseits gab es eine zweite Festlegung: nicht mit Koch. Sie hat gegen Koch mit dem klaren Versprechen einer völlig anderen Politik gepunktet. Im Landtag gibt es eine Mehrheit gegen Koch. Im Jubel sind die Genossen zu euphorisch. Die Unterstützer wollen Taten sehen.

Und dann verstolpert sich auch noch Parteichef Kurt Beck. Der Mann ist wahrlich kein Linker. Über Jahre hat er in seinem Rheinland-Pfalz beschaulich mit der FDP regiert. Aber auch er will sich neue Optionen und Mehrheiten nicht verbauen lassen. Der Wahlkampf in Hamburg läuft noch auf Hochtouren. Spitzenkandidat Michael Naumann, Beck und andere sitzen drei Wochen nach der Hessen-Wahl mit Journalisten zusammen. Beck geht die Wiesbadener Optionen durch: Man müsse die FDP hinüberziehen. Im Notfall werde sich Andrea Ypsilanti mit den Stimmen der Linken wählen lassen. Die Runde ist vertraulich. Aber die Nachricht ist heiß. Sie steht sofort in diversen Blättern. Naumann schäumt. Beck stottert. Hamburg geht baden für die SPD. Das wäre wohl ohnehin geschehen. Nun aber hat Beck die Schuld. Naumann, Ex-Chefredakteur und bald Herausgeber der Zeit, ist ein einflussreicher Feind mit einem guten Gedächtnis. Und er ist nicht allein.

Doch erst einmal ist Ypsilanti dran. Da müssen die Medien ran. Im Frühjahr 2009 degradieren sie die Siegerin von Wiesbaden zur durchtriebenen Idiotin – in einer Einstimmigkeit, die der deutsche Westen seit der Kapitulation 1945 nicht erlebt hat. Der »Wortbruch« ist in aller Munde. Am 5. März konstatiert die Welt-Meinungschefin Andrea Seibel (eine ehemalige taz-Mitarbeiterin), es gehe »um Glaubwürdigkeit, um Prinzipientreue und die Selbstbehauptung der Demokraten gegen die extremen Ränder«.8 Das klingt nach Notstand. »Soll diese Frau über das Schicksal der SPD entscheiden?«, fragt die Autorin. Sie meint Frau Y. Sie findet: auf gar keinen Fall. Und vergisst zu erwähnen, dass sie selbst der SPD gar kein schönes Schicksal wünscht.

Tags darauf zieht die Zeit nach. Ganz oben auf der Seite eine Art Motto in rot: »Wortbruch ohne Reue«. Die Berliner Büroleiterin Brigitte Fehrle, ebenfalls ex-taz, schreibt über die »Königin von Linksland«: Man wisse nicht, ob Ypsilanti »mutig oder waghalsig ist, eine selbstsichere Spielerin oder doch nur eine Getriebene«.9 Welch eine Alternative: Zocken oder Wahn. Die klinische Diagnose lautet: multiple »Selbstsuggestion« der in einer »Linkswelt« gefangenen Phantastin. »So hat sich Ypsilanti mit ihrer SPD eine hermetische Welt zusammengedacht, in der es nur noch eine Richtung gibt: links.« Weil Ypsilanti sich einrede, Siegerin zu sein. Dass die FDP hingegen sich fundamentaloppositionell verweigert, begeistert die Zeit: Die sei »standhaft« geblieben, habe »Haltung bewiesen«. Ob aus grundsätzlichen oder nur strategischen Gründen – die FDP darf alles: »Auch das wäre legitim.« Ypsilanti hingegen versuche, ihren »Wortbruch« als »die Einhaltung eines Versprechens umzudeuten. Hier verlässt sie endgültig die Realität und wandert aus ins Linksland, wo zweierlei Maß herrschen.« Das erscheint der Zeit-Hüterin der Wirklichkeit nur noch als »grotesk«. Zumal der ungute Trend selbst die CDU erfasst habe: eine »Linkswelle, die derzeit Deutschland überspült«. In ihren Augen »ein Mainstream, der keine Fragen mehr zu beantworten braucht«.

Glatter Unfug, aber von der Meinungsfreiheit gedeckt. Hier wird früh jene Deutung intoniert, die bald die gesamte Berichterstattung prägt: das Bild der verblendeten Irren. »Ypsilanti«, die Welt wusste es gleich, »ist und bleibt eine Träumerin.«10 Das Vokabular wird stetig psychiatrischer, die politische Debatte weicht bald völlig der Erörterung ihrer individuellen Charakterdefekte. Im Januar 2009 darf auch die Zeit-Autorin ihren Blattschuss abfeuern auf jene Ypsilanti, die »aus überzogenem Machtwillen und Eitelkeit blind war für die Bedenken in ihrer Fraktion«.11

Zurück zum Beginn der Jagd. Auch der Deutschlandfunk fühlt sich nun ermutigt, über »Andrea Dilettanti«12 zu berichten. Da mag selbst die Frankfurter Rundschau nicht länger abseitsstehen: »Andrea Ypsilanti zahlt nun den Preis für politische Dummheit«, leitartikelt das sozialliberale Blatt. Überschrift: »Abtreten, Ypsilanti und Beck!«13 Immerhin: Drei Tage darauf lässt sie den Essayisten Ivan Nagel zu Wort kommen, der daran erinnert, dass Ypsilanti »vor den Wahlen nicht eine Versprechung, sondern zwei Versprechungen gegeben hat: Koch abzulösen und sich nicht von den Linken wählen zu lassen«. Der Theatermann legt den Finger auf die Wunde: »Wer heute nur über die Umfrage-Verluste für SPD, Beck, Ypsilanti berichtet, statt zugleich über die Tsunami-Welle von demagogischer Raserei, mit der die meistgelesenen Zeitungen des Landes seit den Hessen- und Hamburg-Wahlen täglich über Volk und Politik herfallen – der schildert die Lage unvollständig, also falsch & Eine solche Seuche des Hasses wie in den letzten Wochen gegen Beck und ›Frau Lügilanti‹ wurde hierzulande seit den Dutschke-Jahren nicht mehr entfesselt.«14

Die Mahnung fruchtet nicht. Der Ton bleibt konstant aggressiv. Die »wortbrüchige Machttaktikerin« Y., konstatiert Tissy Bruns, Leiterin der Parlamentsredaktion des Tagesspiegel, noch eine – langsam staunt man – ehemalige taz-Mitarbeiterin, habe die Ablösung Kochs zur »historischen Mission« überhöht: »Und in diesem Rausch sind Glaubwürdigkeit und politische Rationalität geopfert worden.«15 Auch der Stern befasst sich nun mit dieser »Frau, die ums Verrecken ihrer Partei Ministerpräsidentin in Hessen werden will«. Dabei sei die »Minus-Genossin« längst »jämmerlich gescheitert«.16 Wie auch frische Zahlen aus dem Hause Forsa zeigen: SPD minus 23 Prozent. Die Parteirechte geht nun in die Offensive, teilt in vielen Blättern mit, eine Minderheitsregierung sei zu riskant und »weder vernünftig noch realistisch«.17 Der Ober-Seeheimer Johannes Kahrs lobt die Abtrünnige Dagmar Metzger: Sie habe »viel für die Glaubwürdigkeit der SPD getan«.18

Inzwischen sabotiert das Willy-Brandt-Haus recht offen die hessische Suche nach einem Weg aus dem Dilemma. Man streut, die Hessen-SPD, voran die Chefin, sei »beratungsresistent«. Den Dialog führt Ypsilanti in Wiesbaden nur noch mit Kurt Beck, der über die Brücke in Mainz sitzt und mit seinen Berliner Vizes Steinmeier und Steinbrück, den »Stones«, und deren Büchsenspannern nun ganz ähnliche Probleme bekommt. Beck sagt ihr immer wieder: Das ist schwierig, das ist ganz gefährlich, überleg dir das gut. Später schreibt der schon gestürzte Beck in seinem Bilanzbuch Ein Sozialdemokrat: »Es zeigte sich, dass insbesondere Peer Steinbrück meiner strategischen Überlegung nicht zu folgen bereit war. Er scheint bis heute der Meinung zu sein, eine prinzipielle Ausgrenzung der Linkspartei sei der richtige Weg, unabhängig von der politischen Ebene und davon, wie die Partei sich entwickelt.«19 Ypsilanti sagt: »Beck war sehr fair.«

Heute weiß sie, dass es ein Fehler war, vor der Landtagswahl Anfang 2009 die Option Linkspartei kategorisch auszuschließen, dass es weit geschickter gewesen wäre, nach der Wahl alle Alternativen öff entlich durchzuprobieren, auch mit der CDU zu verhandeln. Um einen allgemeinen Erkenntnisprozess zu organisieren. Und der eigenen Parteirechten zu demonstrieren, dass in einer großen Koalition gar nichts ginge. Hessens SPD-Führung aber überhastete im März 2008 ihren Schwenk – zu stark der gefühlte Handlungsdruck, zu schwach die Strategie. »Ich habe diesem Druck viel zu schnell nachgegeben«, sagt sie rückblickend.

Der Volontär

Ein zweiter Anlauf zur Machtübernahme soll systematisch und planvoll erfolgen, nach Auslotung aller Optionen, ausführlicher Rückkoppelung mit der Basis, allen SPD-Abgeordneten, den Grünen und der Linkspartei. Die Presse aber presst weiter. Einige Journalisten meißeln schon früh am Heldengedenkstein für die Abtrünnigen, allen voran für den unterlegenen Ex-Kandidaten Walter, der mit seiner Niederlage sichtlich nicht fertig wird.

Ende Februar bereits verkündet der Tagesspiegel »die Tatsache, dass er kein beleidigter Einzelkämpfer ist, sondern einen nicht unerheblichen Teil der hessischen SPD hinter sich weiß«.20 Dabei melden selbst die Ypsilanti-Fresser vom Spiegel, in der SPD rege sich »nur schwer unterdrückter Zorn über den 39-Jährigen«21 – da er »nach außen, sprich gegenüber Journalisten, anders agiere als innerparteilich«. Der Tagesspiegel aber setzt unbeirrt auf Walter, schimpft, die Wortwitze von Bild nachplappernd, später über »Tricksilanti« und »Lügilanti«, rügt ihr »gefährliches Spiel«22, bezeichnet schließlich die Eckpunkte ihres Koalitionsvertrages mit den Grünen als »blutleere Phrasen«. In vielen Artikeln zermartert sich der Autor Christian Tretbar den Kopf über »diese Frau«, diese »widersprüchliche Person« aus Südhessen, dem »Widerstandsnest der SPD, geprägt von einer lokalen Ballung der Aufmüpfigkeit«.

Schon als Jugendliche habe sie »den ersten ihrer vielen ›Kämpfe‹ im Leben« gewonnen und Abitur gemacht. Wo doch der Vater, ein Meister bei Opel, sie lieber als Banklehrling gesehen hätte. Schon damals stach jener »Charakterzug« hervor, der bis heute »bedeutsam« sei, findet der Autor: »Immer soll es das Besondere für sie sein, sie ist ehrgeizig.« Und heiratet einen »verarmten griechischen Prinzen«. Igitt, so was: Eine anständige Arbeitertochter macht Abitur und heiratet einen Prinzen. Baut sich ein Netzwerk, sucht sich »Protegés« – »allesamt Männer«! Zuweilen habe sie auch »schlicht Glück« gehabt – »unauffllig«, wie sie war, »eine Kofferträgerin«. Es sind Stimmen durchweg anonymer Genossen, die hier zitiert werden. Da reden »einige« oder auch »die Kritiker«, »Zeitzeugen«, »Weggefährten« und »ein Vertrauter«. Deren Urteil ist harsch: Ypsilanti sei »kaltschnäuzig, unsozial und berechnend«.

Ein Porträtschreiber muss zuweilen auch namenlose Quellen zitieren. Hier aber kommt kein einziger Kritiker aus der Deckung. Tretbar spielt mit diesen nicht lokalisierbaren Bezichtigungen: »Einige sagen, dass sie gerne in die Rolle des verletzlichen Rehleins schlüpfe, um Beschützerinstinkte zu wecken. Bei einer so ehrgeizigen Person, bei einer Frau, die eine Frauengruppe gegründet hat, um sich gegen Männerstrukturen durchzusetzen, liegt der Verdacht nahe, dass das nur Berechnung ist.« Wieder wird Walter eingeführt – »am weitesten weg von der linken Ypsilanti«. Den hätte der Autor gern als Wirtschaftsminister gesehen. »Vielleicht meint Ypsilanti, den feindlichen Herrn Walter ignorieren zu können? Dann wäre sie arrogant. Unglücklicher aber wäre es, wenn sie die Gefahr einfach nicht erkennt, die von mangelnder Verbindlichkeit ausgeht.« Eine kryptische Drohung?

Man spürt starke Emotionen hinter den Worten. Dieser Journalist findet Ypsilanti böse. Die Frau binde die Feinde nicht ein, renne stattdessen zu Talker Beckmann: »Heraus kam wirres Zeug.« Die zahllosen Artikel im Tagesspiegel sind voll mit solch kuriosen Passagen. Immer wieder ergötzt sich Tretbar an ihrem Dialekt: »Dann frage isch misch, wie man da in Zukunft Politik machen soll.«23 Immer wieder treten anonymen Zeugen an, reiht sich Gefühliges und Gehässiges aneinander: »Ihr Stil ist akademisch. Ihr fehle die Erdung, wirft man ihr vor. Das Herz. Allein schon ihre Gestik: Der bodenständige Politiker nimmt gern die geballte Faust. Sie legt lieber Daumenspitze und Zeigefingerspitze zusammen, um ihre Zuhörer gleichsam aufzuspießen. Und: Sie denkt in Fernzielen. Alltag liegt ihr nicht.«

Unverkennbar: eine Kampagne. Und merkwürdig: Der Autor schreibt in diesen Monaten sonst gar nicht über Politik, eher über Tennis, Trash-Partys, Bartwuchs und Bands. Eine kleine Recherche bringt Erstaunliches zutage: Tretbar ist zu diesem Zeitpunkt Volontär beim Tagesspiegel, ein Auszubildender.

Zuvor war er Pressesprecher der Bundestagsabgeordneten Nina Hauer, SPD. Die Anlageberaterin Hauer, 1998 von Bild zur »Miss Bundestag« gekürt, ist Vorsitzende des hessischen SPD-Unterbezirks Wetterau. Dort kandidierte im Wahlkreis 25 (Wetterau I) auch der Abgeordnete Jürgen Walter. Hauer und Walter sind politisch enge Vertraute, gehören beide zur Gruppe der »Netzwerker«, jener Neopragmatiker, die das Rechts-links-Schema hinter sich gelassen haben und nur mehr eine Richtung kennen: nach oben. Für Gerhard Schröder erschien Hauer hochschwanger im Bundestagsplenum – um bei seiner Vertrauensfrage Ja zu sagen. »Ich kenne Oskar Lafontaine«, sagt sie. »Der hat das Ziel, uns zu demütigen und uns zu zerstören.«24

Fungierte Volontär Tretbar in über drei Dutzend Artikeln als Werkzeug dieser Gruppe? Stecken hinter seinen namenlosen Zeugen, den vielen »hinter vorgehaltener Hand« geäußerten Worten Hauer & Co? »Sie kann s nicht lassen«, lautet die Überschrift eines Textes, der sich pseudo-mitleidig des neuen SPD-Kandidaten Thorsten Schäfer-Gümbel annimmt: »Er darf nun jene Suppe auslöffeln, die Ypsilanti der SPD mit ihrer Entscheidung für ein Linksbündnis eingebrockt hat. Sie selbst ist fein raus, bleibt Partei- und Fraktionschefin und hat eine einflussreiche Machtposition behalten. Verantwortung und Neubeginn sehen anders aus.«25 Und Tretbar wird so zornig, dass er sich in der Grammatik verheddert: »Auch wenn es merkwürdig erschienen wäre, aber es hätte Respekt verdient gehabt, wenn sie nochmal angetreten wäre und den Wähler gefragt hätte: Wollt ihr meinen Politikwechsel, ja oder nein?« Nein, findet er, aber: »Machtverzicht ist ihre Stärke nicht.«

Die Identifikation des Volontärs ist so stark, dass er den Abtrünnigen bis in die Wortwahl folgt. »Man hatte nicht mehr das Gefühl, ein Kritiker zu sein, sondern ein Störer«, klagt Silke Tesch, eine jener SPD-Abgeordneten, die Ypsilanti Stunden vor dem zweiten Anlauf nach vielen gegenteiligen Beteuerungen die Stimme verweigern, abends bei Beckmann: »Auf den Partei tagen war die Stimmung voller Hass, Häme und Anfeindungen.«26 Später liest man im Tagesspiegel: »Es war Ausdruck und Höhepunkt dessen, was die hessische Partei in diesem Jahr ausgezeichnet hat: Hass, Häme und Anfeindungen.«27 Im November 2008 antwortet Thorsten Schäfer-Gümbel im ZDF auf die Frage von Johannes B. Kerner, ob es nach der Wahl Streit mit Ypsilanti um den Fraktionsvorsitz geben werde: »Nein, dann bin ich ja Ministerpräsident.« Kerner lacht, alle lachen, auch die dabeisitzende Ypsilanti. Ihr Lachen aber ist für Tretbar der Schocker schlechthin: »Irgendwann hat Andrea Ypsilanti die Maske fallen lassen. Die selbst ernannte hessische Jeanne d'Arc, die sich für die soziale ›Gereschtischkeit‹ einsetzt wie keine Zweite, mutierte zur eisernen Lady. Gnadenlos verpasste Hessens SPD-Chefin vor den Augen von Johannes B. Kerner und der Fernsehöffentlichkeit ihrem Spitzenkandidaten Thorsten Schäfer-Gümbel am Dienstagabend einen Peitschenhieb.«28 Das ist schlicht absurd. Hier brennen Sicherungen durch. Es geht tatsächlich nur um die Interpretation dieses gemeinsamen Lachers: »Besser hätte es Gerhard Schröder, Ex-Kanzler und Lieblingsfeind von Ypsilanti, kaum machen können. Sein Lachen war tödlich, ihres war brutalstmöglich. Aber bestimmt war es lieb gemeint.«

Nina Hauer übrigens schrieb ihrem Ex-Pressesprecher zum Abschied: »Er hat fünf Jahre für mich gearbeitet, mich begleitet und beraten.«29 Sie gratulierte dem Tagesspiegel »zu einem solchen Mitarbeiter« und schenkte Tretbar eine Schröder-Biografie: »Das waren schließlich auch unsere sieben Jahre.«

Operation BMW

Zimperlich ist keiner. Über Monate wird der »Wortbruch« durchdekliniert. Das Versprechen, nicht mit der Linken zu paktieren, wird absolut gesetzt – alle versprochenen politischen Inhalte dagegen als lässlicher Spinnkram kleingeredet. Dabei weiß jeder, dass sich nach Wahlen stets Mehrheiten finden müssen und sich Bedingungen zuweilen radikal ändern können. 16 Jahre Kohl wurden überhaupt nur möglich, weil die FDP 1982 plötzlich entdeckte, dass es ihr mit der SPD und Helmut Schmidt politisch gar keinen Spaß mehr machte. Die FDP hatte sich verändert, wollte eine andere, wirtschaftsliberale Politik. Sie suchte sich einen passenden Partner dafür. Ein kalkulierter Wortbruch. Ein Koalitionsbruch dazu. Schon 1961 hatte sie im Wahlkampf beteuert, auf keinen Fall mehr Konrad Adenauer mitzuwählen. Um genau dieses nach der Wahl zu tun. Im Wahlkampf 2005 schlossen CDU und SPD eine große Koalition kategorisch aus. Die SPD war auch ganz energisch gegen mehr Mehrwertsteuer und reimte: »Merkel-Steuer, das wird teuer«. Nach der Wahl koalierten beide und erhöhten die Mehrwertsteuer noch kräftiger, als es die CDU angekündigt hatte. Man mag das missbilligen. Wer aber bestreitet, dass es in einer Demokratie, zumal in einer Fünf-Parteien-Konstellation, eine immerwährende Crux ist, Koalitionen zu schmieden, um inhaltliche Ziele auch durchzusetzen, will wohl eine Kampagne führen.

Das größere Problem der seit Jahren abbröckelnden SPD: Die Linkspartei ist für sie ein hochemotionales Thema. Viele »Linke«, im Westen vor allem, sind abtrünnige Sozialdemokraten. Die bohren beharrlich im Fundament der SPD, gerieren sich als ihr schlechtes Gewissen. Ihr lautester Anführer ist der einst umjubelte SPD-Chef Lafontaine, seinerseits bewegt von unguten Emotionen gegenüber den Ex-Genossen. Das nährt Angst und Zorn. Zumal der Streit über die Ursache, den Agenda-Schwenk Gerhard Schröders und die damit einhergehende antisoziale Rhetorik, unterdrückt wird. Umso emsiger arbeiten große Teile der Sozialdemokratie an der Tabuisierung der schwierigen Linkspartei. Und berauben sich so wichtiger Machtoptionen.

Das sich entspinnende hessische Drama ist in seiner Heftigkeit nicht ohne den gärenden Konflikt innerhalb der SPD erklärbar. Er beginnt nicht erst mit Ypsilantis Wahlerfolg Anfang 2008, sondern schon mit jenem Hamburger SPD-Parteitag im Oktober 2007, auf dem Parteichef Beck behutsame Korrekturen an der von ihm stets verteidigten Agenda anbringt. Diese kleinen Korrekturen werden vom den meisten Medien als »Linksruck« gegeißelt und von einer kleinen, aber mächtigen Schar Berliner SPD-Macher als Kampfansage interpretiert. Das marginalisierte Parteifußvolk stützt Beck in Hamburg, wählt ihn mit 95,5 Prozent der Stimmen. Was wenig nützt, wenn man Franz Müntefering, Peter Struck, Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück gegen sich hat. Gemeinsam mit dem Gros der Meinungsmacher gerieren sie sich als Schröders Lordsiegelbewahrer. Die Operation »BMW« rollt an: Beck muss weg.

Mit der Wahlverweigerung Dagmar Metzgers in Hessen im März 2008 wird es medial ernst für den Parteichef. Der um eine deftige Rhetorik nie verlegene Steinbrück etwa verliebt sich geradezu in das Wort »Wortbruch«. Manchmal scheint es, als lege es der Wahlverlierer von NRW, der in Berlin sein zweites politisches Leben führt, geradezu darauf an, dass die SPD in keinem Bundesland mehr regiert. Am Parteichef wird nun ernsthaft gesägt. Der Spiegel sortiert in einer episch breiten Story die Fronten: Der gerade wahlkämpfende Naumann, die beiden »Stones« und andere wackere Fahrensmänner werden als Beck-Killer in Stellung gebracht.30 Beck tritt hier als tapsiger Dummerjan des »Linksschwenks« auf, von der Basis gefeiert und dadurch »berauscht«.

Der Rest ist Seifenoper. Die bedrängten Stones hätten gar grausig gelitten unter dem Linkstyrannen Beck: »Sie hatten sich verbogen, sie wurden gedemütigt und vorgeführt beim Parteitag in Hamburg. Sie knirschten mit den Zähnen und gaben Interviews, bei deren Lektüre sie ihre Selbstachtung verlieren mussten. Jetzt wollen sie zurückschlagen.« Beide telefonierten viel, hielten Kontakt zu Matthias Platzeck und Franz Müntefering, erfährt der Spiegel-Leser. Die Frage sei allein noch, ob Frank-Walter Steinmeier seine Ansprüche bald outen werde – »ob er springt, ob er sich traut«. Sechsmal wird das Verb »springen« mit Steinmeier verknüpft. Ein Drängen ist unverkennbar. »Ein stilles Drama in einem Kopf unter Silberhaar«, dichtet der Spiegel.

Die Titelgeschichte ist der furchtbare Tiefpunkt einer an Tiefschlägen reichen Serie: »Vorwärts... und vergessen!«, bellt es vorne im roten Rahmen. Darunter stehen, in alter ML-Manier aufgereiht, die Herren Beck, Lafontaine, Lenin und Marx. Propaganda pur. Dagegen verblassen selbst die Bild-Leute als Weicheier. Der mit viel Lyrik aufgegossene Blödsinn hat ein Ziel: Der Spiegel will Steinmeier. Er feuert ihn an: Trau dich, spring! Für die Agenda! Da fallen journalistisch alle Hüllen. Die Argumente von SPD-Vizechefin Andrea Nahles etwa werden in einem Absatz referiert, der mit der Feststellung endet: »Das ist nur eine weitere Augenwischerei.« Zehn Tage später zieht der Stern nach, mit der Schlagzeile: »Im freien Fall«.31 Kronzeuge ist wieder einmal Forsa-Chef Manfred Güllner, ein Schröder-Freund (»Der Güllner sagt mir heute, was die Menschen in sechs Wochen von uns denken«32), der Bertelsmann-Objekten wie Stern und RTL regelmäßig Zahlen liefert.

Hier prägt er das neue Berufsbild des Demagogoskopen, sägt so wonnig an Becks Stuhl, dass man die Späne fliegen sieht. »Man muss sich fragen: Wann ist man eigentlich noch Volkspartei?«, meint er und streut neue Horrorzahlen. »Beck wollte am Donnerstag nur jeder zehnte als Kanzler ; drei Viertel der SPD-Wähler lehnen ihn ab«, meldet der Stern. »Einen solchen Wert habe ich noch nie gemessen«, sekundiert der objektive Güllner, der zu rotgrünen Zeiten Aufträge im Umfang von etwa 600 000 Euro pro Jahr vom Bundespresseamt bekam.33

Schon im Sommer 2007 mokierte sich Bürger Güllner auf Einladung des SZ Magazins über Becks klitzekleine Herkunft, die »Begrenztheit dieses Milieus«. Der habe, anders als sein Held Schröder, nie kämpfen müssen, sei »von der alten, damals noch funktionierenden ›Klassenerhöhungsmaschine‹ der SPD und der Gewerkschaft von Funktion zu Funktion getragen« worden.34 Gern geißelt Güllner fortan den »kollektiven Irrsinn« der SPD.35 Die muss bei Forsa jetzt leiden, liegt oft so viel tiefer als bei Allensbach, Emnid und anderen Instituten, dass Sozis schon über die »Güllnersche Standardabweichung« spotten.36 Der SPD schade die Annäherung an die Linke, predigt Güllner, Beck sei »der Garant dafür, dass die SPD die Bundestagswahl 2009 verliert«.37 Lausige 14 Prozent würden Beck zum Kanzler wählen. Drei Viertel der SPD-Wähler wollten ihn nicht als Regierungschef: »Nüchtern betrachtet erscheint eine Kanzlerkandidatur für Beck völlig aussichtslos.« Anfang Juni 2008 dann wird es noch schrecklicher. Die SPD fällt bei Forsa auf 20 Prozent, Beck würden bei einer Direktwahl gerade noch elf Prozent wählen, heißt es nun. Zeitungen und Online-Portale stürzen sich auf solche Extremwerte. Sie schaffen Stimmungen. »Erst kam der Linksrutsch«, schreibt der Stern, »dann der Absturz.«38

Das gab es so noch nie in der deutschen Nachkriegsgeschichte, ein historischer Tiefpunkt ist erreicht: die Vereinheitlichung der veröffentlichten Meinung. In diesem Sommer vermag eine SPD, die mehr und anderes will als CDU-Politik, über deutsche Medien keinerlei nennenswerte Öffentlichkeit mehr zu erreichen. Es ist eine Hegemonie der Häme. So mächtig, dass auch mancher Medienwissenschaftler fatalistisch mit den Achseln zuckt. »Die Politiker haben nur die Chance, sich dem anzupassen«, rät etwa der »Politainment«-Papst Andreas Dörner: »Ich glaube, das Defizit besteht im Team Beck darin, dass man diesem Aspekt der Image-Politik, der angemessenen Inszenierung in dieser Medienlandschaft noch zu wenig Aufmerksamkeit widmet.«39 Fairness? Das war gestern! Macht mehr Show!

Kurt Beck reist nach Berlin, um sich den Medien zu stellen. Und erntet Gejohle und Gefeixe. Die Kampagne der Meinungsmacher, gut gespeist aus dem Innern der SPD, wird so massiv, dass Beck Anfang September das Feld räumt – angewidert von den »Büchsenspannern« und ihren Claqueuren, den Spin-Doktoren und ihren fröhlichen Mitläufern. Stern-Vizechef Hans-Ulrich Jörges, ein Berliner Rudelführer, befällt beinahe schon Mitleid: »Die Meute hat sich auf einen Schwachen gestürzt. Das war so einfach, wie es feige war.«40 »Ist da«, fragt sich auch Zeit-Politchef Bernd Ulrich, »etwa ein rechtschaffener Mann aus der Provinz an der kalten Hauptstadt, ihren Medien und Heckenschützen gescheitert?« Könnte schon sein, antwortet er sich. Doch es ist ihm Wurst. Auch er ist begeistert, jubiliert: »Ein richtiger Putsch.«41 Schon weil Beck »offenbar zu wenig Demut« hatte »vor den Berliner Ämtern, die er innehatte oder anstrebte«.

Vollzug! Beck ist weg. Nun fehlt nur noch Ypsilanti.

So was sagt man nicht

Je öfter Ypsilanti darauf verweist, dass sie ihr Versprechen, Koch abzulösen und eine völlig andere Politik zu machen, ob der strikten Weigerung der FDP nur mehr durch eine Duldung der Linkspartei einlösen kann, desto stärker wird der Hohn über diese »Inhalte«. »Das ist Wortklauberei, unanständige dazu«, urteilt etwa Volker Zastrow, Politikchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, der immer wieder klarstellt, dass er die ganze Ypsilanti für eine zurückgebliebene Zumutung hält.42 Und den »überaus sachkundigen Ministerpräsidenten« Koch zutiefst bedauert, es überhaupt mit so einer zu tun zu haben:

»Noch in der bemühten Schonung seiner Herausforderin fühlte man die Fassungslosigkeit dieses Ministerpräsidenten, sich mit einer Frau auseinandersetzen zu müssen, die noch mit über fünfzig Jahren an dem Ergebnis ihrer Diplomarbeit festhält, dass Papi schuld ist, und tief ungerecht findet, dass Piloten besser bezahlt werden als Luftkellnerinnen. Das sind Zeichen von Unreife. So was sagt man nicht. Doch ist unübersehbar, dass bei Andrea Ypsilanti das Murmeltier nun schon seit mehr als dreißig Jahren grüsst. Sicher war es nicht nur verhängnisvoll, dass sie damals, in der exzessiven Enge der Siebziger, gerade im labilsten Lebensalter steckte – aber anders als viele ist sie darüber offensichtlich nicht hinweggekommen. Und sie hat sich mit Leuten umgeben, denen es genauso geht.«43

So sind sie gemeinsam fassungslos.

Andere Medien fauchen nicht minder zornig, wenn es um Ypsilantis politische Ziele geht, ihr, so Focus, »nebulöses ›Projekt der sozialen Moderne‹ «.44 Ihr stehe »das Kainsmal der Lüge auf die Stirn geschrieben«, wettert die Welt.45 »Mit ihr kehrt eine Form der Lüge in die Politik ein, die in ihrer schlichten Dialektik den Rahmen jedweder Verständigung sprengt«, findet die FAZ46 und schüttelt sich, als Ypsilanti versucht, in der ARD bei Beckmann, ihre Ziele zu erläutern, vor ihren »ominösen politischen ›Inhalten‹«. Auch Spiegel Online hört dort nur » abgegriffene Phrasen«, tut ihren schon verzweifelten Hinweis auf politische Ziele mit einem Wort ab: »Plattitüden«.47 Im Studio triff t sie auf den Journalisten Michael Jürgs, der ihr »Wortbruch«, »Lüge« und »Verarschung« vorhält und nebenher gleich mitteilt, auch Beck habe »schlicht auf ganzer Linie versagt«. Gastgeber Beckmann wiederum diagnostiziert, sie sei von »Hybris« befallen, vom Wahlerfolg »berauscht« und spiele russisches Roulette. Doch leider, leider, trauert die Süddeutsche Zeitung nach dem kleinen TV-Tribunal, sei es dem Talkmaster nicht gelungen, »Andrea Ypsilanti zu knacken«.48

Politisch ist ihr zweiter Anlauf gleichwohl besser vorbereitet. Zumal Anfang August auch die innerparteilichen Gegner – »Netzwerker« wie Jürgen Walter, Carmen Everts, Nina Hauer, Gerrit Richter – beschließen, dass es zu einem Duldungsbündnis mit der Linken keine Alternative mehr gebe. Walter etwa gibt in der FAZ zu Protokoll: »Ich sehe aber keine andere Möglichkeit mehr, eine Regierung in Hessen zu bilden, als mit einer rot-grünen Minderheitsregierung.«49 Schon klagt der bei Angela Merkel so wohlgelittene Hugo Müller-Vogg von Bild, Steinmeier und Steinbrück seien »zu schwach, sich dem Linksruck ihrer Partei entgegenzustemmen«, sich gegen »Wortbruch-Ypsi«50 zu wehren. Der erprobte Schlammschlächter fi ndet ein Schlagwort für die he raufziehende »rot-rote Republik«: »Volksrepublik Deutschland«. Leitthese: »Ypsilanti & Lafontaine basteln an einem neuen Deutschland. Es soll ein Land werden, in dem Gleichheit wichtiger ist als Leistung. Ein Land der Einheitsschulen wie der Mindestlöhne. Ein Land, das mit dem Erfolgsmodell Bundesrepublik nicht mehr viel zu tun hat.« Später wird Müller-Vogg ein Buch aus diesem Teig backen.51

Im Spätsommer nimmt der Machtwechsel Formen an. Ende August fragt der Stern Andrea Ypsilanti, ob sie nicht das Schicksal der Heide Simonis fürchte, der ersten und bislang einzigen SPD-Ministerpräsidentin Deutschlands, die 2005 an einem Heckenschützen aus den eigenen Reihen scheiterte. Sie kontert kühl: »So was kann immer passieren. Man guckt den Leuten auf die Stirn, nicht ins Hirn.«52 Sie führt Einzelgespräche mit allen Abgeordneten. Anfang September steckt der Landesparteirat Kriterien für die Koalitions- und Duldungsgespräche mit Grünen und Linkspartei ab. Bis Mitte September folgen Regionalkonferenzen der hessischen SPD – mit breiter Zustimmung für ihren Kurs. Ende September bekommt Ypsilanti bei einer geheimen Probeabstimmung in der Fraktion 41 Ja-Stimmen.

Nur Dagmar Metzger enthält sich. Alle Aspekte und Facetten sind in Partei und Fraktion nun diskutiert und abgestimmt. Alle parteiinternen Kritiker bis auf Metzger signalisieren stetig Unterstützung. Selbst der schwierige Walter beteuert ein ums andere Mal seine Treue, handelt wichtige Passagen der Vereinbarungen selbst mit aus. Am 3. Oktober beschließt der Landesvorstand einstimmig: Eine Tolerierung durch die Linke ist möglich. Tags darauf bestätigt ein Sonderparteitag mit knapp 96 Prozent Ypsilantis Kurs. Widersacher Walter lobt dieses »Vorbild für innerparteiliche Demokratie«, deklamiert: »Lasst uns heute die Ampel auf Grün stellen, damit wir die Chance haben, dass dieses Land wieder rot wird.«53 Was sonst hätte Andrea Ypsilanti noch tun können?

Nichts. Die Medien aber sind gänzlich unbeeindruckt von solcher Meinungsfindung. Ypsilanti wird nun gezielt niedergeschrieben. Ende Oktober hat der Stern ein besonders gefühliges Porträt im Angebot: »Die Geschichte einer heißkalten Frau«.54 Ein he rausragend perfider Text. Er schmeichelt sich weiblich-verständnisvoll ein, nur um die Klinge noch tiefer hineinzutreiben. Die Autorin Franziska Reich führt Selbstgespräche über »diese kleine, hesselnde Frau Ypsilanti«: »Und man denkt: Wie soll man ihr das glauben?« In Amerika rede Barack Obama von »Change« – »und es klingt warm und weich und nach Verheißung. Im diesigen Wiesbaden sagt Ypsilanti: ›Politikwechsel‹ – und es klingt hohl und leer und technisch.« Warum? »Es soll ein starkes Wort sein für ein starkes Versprechen und ist doch nur eine Hülse für pastellfarbene Träume – und die universale Rechtfertigung für ihren Drang zur Macht.« Auch hier kein Wort über politische Inhalte, dafür viel Spott über »ihre Jünger«, die »nach Paranoia« klingen, »nach Verschwörung der Illuminaten«. Das Urteil: »So wenig Herz. Zu viel Maske.« Sie wirke »wie die Anführerin einer durchgeknallten Sekte« ; »umgeben von merkwürdigen Männern« reagiere sie »verbissen. So merkwürdig klein. Klein und kalt.« Am Schluss darf Ypsilanti noch einmal »Politikwechsel« sagen. Damit die Autorin diesen Satz anfügen kann: »Und man starrt sie an – und kann ihr einfach nicht so richtig glauben.«

Im Internet warnt nun www.wortbruch.info: »Hessen, lass dich nicht linken!« Dahinter steht Alexander Demuth, Chef der Frankfurter Demuth Corporate, einer Beratungsfirma für »strategische Unternehmenskommunikation«, zu deren vielen Dienstleistungen »Change-Management« und »Krisen-Kommunikation« gehören.55 Demuth ist auch Vorsitzender des Ehrenrats der Deutschen Public Relations Gesellschaft (DPRG). Das publizistische Sperrfeuer erreicht derweil einen neuen Lärmpegel. Die Presse wird noch persönlicher. Die Zeitschrift Cicero schreibt über »Fräulein Dill aus Königstädten«: »Wie der Terminator pflügt sie auf ihr Ziel zu.«56 Bild hat täglich »Neues aus Ypsiland«. Am Abend des 25. Oktober meldet Spiegel Online neuen »Ärger in der SPD«. Walter sei wieder sauer: »Den schärfsten Rivalen hat sie ausgebootet, den rechten Parteiflügel vergrätzt.« Am Montag legt der Papier-Spiegel nach: Es gebe »erhebliche Verstimmung unter Wirtschaftspolitikern« in der Hessen-SPD. Die Weltlanciert die Abgeordnete Carmen Everts, die nun auf Ypsilanti schimpft, weil sie den »Solar-Papst« Scheer gegen Walter durchgesetzt habe: »›Ypsis Sonnengott‹ plant Industrie-Revolution«.57

Eiskalte Windmacher

Scheer darf nicht sein. Seit Jahrzehnten engagiert sich der SPD-Bundestagsabgeordnete für eine bessere Energiepolitik, treibt die Entwicklung regenerativer Energien voran, vor allem die Solarenergie. Er hat etliche Bücher geschrieben, den alternativen Nobelpreis bekommen. Regelmäßig kritisiert er auch das Treiben unseres Energie-Oligopols, mit dem Teile der SPD eng verwoben sind. Weshalb klassische Kohle- und Atompolitiker und die kernigen Kumpels der IG Bergbau und Energie auf Scheer selten gut zu sprechen sind. Scheer fordert echten Wandel, verlangt bessere Forschung, eine innovativere Industrie, eine klügere Politik. Das empfindet mancher Repräsentant des Status quo als bedrohlich.

Scheer hat sich für Alternativenergien schon eingesetzt, als sie für die meisten Meinungsmacher noch Spinnkram waren. Heute hängen daran schon rund 280000 Arbeitsplätze in Deutschland.58 Der Mann ist eine Kapazität auf diesem Feld, einer der wenigen Global Player im Parlament. Im Oktober 2009 jettete er vom Solar-Weltkongress in Johannesburg zum Energy Leaders Gipfel in London, weiter zum Great Wall Forum in Schanghai und schließlich zur Alter Energy Convention in Dubai. Überall war er als Redner geladen. Da bekommt so mancher Genosse schlicht Komplexe. »Hermann Scheer«, meint der ehemalige CDU-Umweltminister und spätere Direktor des UNO-Umweltprogramms Klaus Töpfer, sei »der internationale Vordenker für Erneuerbare Energien, von dem wir alle viel lernen können.«

Für den Spiegel aber ist er nur eine »umstrittene Personalie«, mit dem Ypsilanti ihren Widersacher Walter »verprellt« habe: »Selbst die eigenen Genossen rätseln, was Ypsilanti mit diesem Mann verbindet.«59 Die Welt porträtiert ihn als »Windmacher«60, Spiegel Online dito. Beide berichten mit triefender Gehässigkeit über den »Dampfplauderer«, gespickt mit anonymen Zitaten. Startsatz auf Spiegel Online: »In Berlin war er längst abgeschrieben, nun soll er Wirtschaftsminister in Hessen werden.«61 Ganz klar, ein eitler Schwätzer: »In die erste Reihe hat er es nie geschafft – auch weil er gern den prinzipienfesten Abweichler spielt, der sich mit den Parteigranden anlegt.« Potztausend, da hat einer Prinzipen! Legt sich mit den Chefs an. Im Hause Spiegel gewiss ein Todesurteil.

In Hessen sind die Säle voll, wenn er kommt. Die großen Blätter aber zeichnen das Bild einer eitlen, dauerdozierenden Nervensäge. Der Stern witzelt über den »Sonnenenergie-Anbeter«, den »ewigen Energie-Papst Scheer«.62 Focus frotzelt über den »Guru«63 und lässt einen anonymen SPD-Landtagsabgeordneten den Satz sprechen: »Wegen seiner irren Ideen muss Scheer ganz ausgeschaltet werden.«64 Ypsilanti, meldet der schon erwähnte fleißige Volontär vom Tagesspiegel, »schien berauscht von ihm«.65 Auch die Zeit ist empört, dass sie »dem altlinken Weggefährten Hermann Scheer und nicht ihrem konservativen Widersacher Jürgen Walter das Wirtschaftsministerium angeboten« hat.66 Würde sie tatsächlich gewählt, sei dies ein »Putsch gegen den Wähler«.

Der Furor der Amateur-Psychiater

Die Abstimmung steht nun unmittelbar bevor. Und scheitert. Am Vormittag des 3. November, einem Montag, erfährt Andrea Ypsilanti per Telefon, dass nicht nur Dagmar Metzger, sondern auch Jürgen Walter, Carmen Everts und Silke Tesch bei der für Dienstag angesetzten Wahl im Landtag nicht für sie stimmen werden – aus Gewissensgründen, aus Sorge um die Zukunft Hessens. Alle vier verweigern ein Gespräch. Die Aktien von Eon und RWE steigen an der Frankfurter Börse um 7,11 und 4,95 Prozent. Die Fraport-Aktie schießt um 10,5 Prozent hoch.

Die Medien sind verzückt. Welch ein Jubel, welch ein Segen! »Ende der Geisterfahrt«, freut sich die Süddeutsche: »Andrea Ypsilantis Zeit ist vorbei, die Frage ist nur, wie lange sie braucht, bis sie das begreift.«67 In ihrer »Verblendung«, heißt es dort einige Tage später, »erinnern Ypsilanti und ihre Getreuen eher an eine politische Sekte als an eine Partei«.68 Sie habe, findet FR-Chefredakteur Uwe Vorkötter, »wieder die Regeln des politischen Handwerks außer Acht gelassen« und die Kritiker »gedemütigt, vor allem mit der geplanten Berufung des Öko-Fundamentalisten Hermann Scheer zum Wirtschaftsminister«.69 Scheer ist schuld, meint auch die Financial Times Deutschland: Denn der »Solarpapst«, mein Gott, »verlangt von den Unternehmen eine grundlegende Umorientierung in der Energie- und Rohstoffversorgung«. Uli Jörges hatte im Stern zuvor schon Walter zum Wirtschaftsminister ernannt – als »Garant ökonomischer Vernunft im Kabinett der Träumer«.70

Da hatte der Garant gerade zwei Kabinettsposten abgelehnt und, obwohl selbst an den Koalitionsverhandlungen führend beteiligt, deren Ergebnis verdammt. Ein »Supergau-Tsunami« habe die Sozis »für lange Zeit hinweggefegt«, bilanziert Michel Friedman in Bild. Das Ex-CDU-Vorstandsmitglied, wegen zu engem Kontakt mit Koks und ukrainischen Nutten schon länger außer Betrieb, freut sich, mal wieder in Moral machen zu dürfen: »Wer Wähler belügt und betrügt, wer glaubt, gegen die Mehrheit der Bürger Politikwahnsinn etablieren zu können, wer sich von einer chaotischen links-spinnenden Partei wie Die Linke tolerieren lassen möchte, muss am Ende sein, bevor es einen Anfang geben kann.«71 Bild hat dazu auch eine schöne neue Schlagzeile: »Ypsiland ist abgebrannt«.

In wortführenden Zeitungen führen noch immer Herren das Wort. Auch bei den meisten Frauen, sagt Ypsilanti, gab es »kein Fünkchen Goodwill«. Deutschlands Medien, im Schatten gewichtiger Amtsinhaber gern voller Ehrfurcht, geben sich bei dieser Frau richtig keck. Als der Stern die Politikerin zum Interview bittet, lautet die erste Frage: »Sind Sie machtgeil, Frau Ypsilanti?«72

Einem Roland Koch, der alles geleistet hat, eine solche Frage zu provozieren, bleibt sie erspart. Um ihn, der die Macht 1999 in einem hässlichen, die Fremdenangst hervorkitzelnden Wahlkampf eroberte und sie 2008 mit ähnlich miesen Mitteln verteidigen wollte, der damit scheiterte und nun ohne Mehrheit am Sessel klebt, werden konservative Blätter weiter Kränzlein flechten, ihn als pflichtbewussten, von Verantwortung gebeugten Landesvater porträtieren.

Was man den alten Hirschen auf der Politlichtung vollkommen selbstverständlich durchgehen lässt – dass sie mächtig röhren, die Geweihe krachen lassen und überhaupt tüchtig herumimponieren – , das gestattet die öffentliche Meinung einer Frau noch lange nicht. Nicht einmal in der vermeintlich fortschrittlichen SPD. Was bei Männern als »Standing« gilt, schrumpft bei Frauen zur »Sturheit«. Die Bundesrepublik hat in ihren bislang 60 Jahren genau einen weiblichen Ministerpräsidenten hervorgebracht: Heide Simonis. Hinzu kam nun die Beinahe-Ministerpräsidentin Ypsilanti. Kann es Zufall sein, dass beide von ihren – sozialdemokratischen – Genossen zu Fall gebracht wurden? »Die heftigen Reaktionen, die Andrea Ypsilanti ausgelöst hat«, beobachtet der Politologe Martin Hecht, »entstammen nicht dem gesunden Sachverstand einer kritischen Öff entlichkeit, sondern tieferen Schichten: der gekränkten Männerehre. Es geht um eine Art Selbstverteidigung. Was glaubt denn diese Frau XY, wer sie ist!«73

Scham ist ein Gefühl, das mich als Journalist früher selten beschlich. Solch geballter Furor aber, so viel gleichgeschalteter Schmierenjournalismus ist bestürzend. Hier haben sich Altvordere unserer Zunft mit einer jungen Garde von Zynikern zusammengetan, um kollektiv eine Gruppe nicht sehr mächtiger Politiker niederzumachen, die etwas verändern wollten, hierfür bei den Wählern intensiv geworben hatten und mit verblüff end vielen Stimmen belohnt worden waren. Selten ging es bei diesen Attacken um politische Ideen, permanent hingegen um vermeintliche Charakterzüge – um Eitelkeit, Gier, Geilheit, Verlogenheit, Starrsinn, Irrsinn, Wahnsinn und rote Haare. Sie wurden systematisch niedergeschrieben. »Character assassins« heißen solche Journalisten in den USA, was mit »Rufmördern« nur unzureichend übersetzt ist. So passte der deutsche Medientenor exakt zum CDUWahlplakat: »Ypsilanti, al-Wazir und die Kommunisten stoppen!«

Mehr Belege? Ihr hafte, schäumte etwa der sonst so charmante Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo, »inzwischen der Ruch einer Fanatikerin an: verblendet von einer Mission, bewehrt mit eiskaltem Machtwillen und verflucht durch den Betrug am Wähler«.74 Er bremst sich kurz: »Daran ist natürlich fast alles überzeichnet.« Um noch heftiger nachzulegen. Sie habe, so sein klinischer Befund, »autistisch am Bürger vorbei agiert«, um »sich und ihre Getreuen an die Macht zu bringen«. Auch die FAZ benutzte das Adjektiv »autistisch« mehrfach.75 Auf stern.de bloggte der ehemalige Vize-Pressesprecher Alexander Görlach der CDU/CSUBundestagsfraktion: »Es grenzt schon an Premium-Autismus.«76 Das Bild der durchgedrehten Irren findet sich überall. Stern-Autorin Reich schrieb: »Steinmeier. Sogar die linke Nahles. Sie haben auf sie eingeredet wie auf einen durchgedrehten Gaul. Es hat nichts geholfen.«77 Die Zeit formuliert unter der Überschrift »Eine Partei im Wahn« die Hoffnung, dass Ypsilantis Nachfolger »das Wunder von Wiesbaden schaff t: die SPD zurückzuverwandeln von einer geschlossenen Anstalt in eine normale Partei.«78 Klaus Bölling, 80, einst Regierungssprecher Helmut Schmidts, beweint in der Süddeutschen jene Genossen, »die irgendwie von Andrea Ypsilanti verhext zu sein scheinen«.79

Verhext! Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter hat Ypsilanti einen sehr aufmunternden Brief geschrieben. Der zugleich ein wenig bedrückend wirkt – konstatiert er im medialen Umgang mit ihr doch deutliche Parallelen zur Hexenverbrennung. Aber wer ist schon der alte Sozialphilosoph Richter? So einer gehört zum Uralt-Mobiliar, passt nicht mehr zum Sound des tonangebenden Meinungsoligopols.

Das ist das Bedrückendste: Tatsächlich waren fast alle Medien mit von der Partie. Es gab kein anderes Denken mehr, kaum Kritik an diesem Feldzug. Es galt nur noch eine Lesart: ein hämisches Alles-linke-Spinner-Geschrei. Die Springer-Blätter blieben sich einfach treu ; Spiegel, Stern, Zeit, Süddeutsche und andere stießen munter hinzu. Die veröffentlichte Meinung hat hier einen Grad von Gleichklang erreicht, der jeden nervös machen sollte – besonders vor dem Hintergrund unserer an Unterdrückung von Pluralität so reichen Geschichte. Was wird geschehen, wenn es eines Tages um mehr geht als um die Macht in Wiesbaden? Wenn Medien wieder wirklich gebraucht werden – ihr scharfer Blick, ihre genaue Beschreibung, ihre kluge Bewertung, ihre mahnende Stimme, ihre Unabhängigkeit, ihre Vielstimmigkeit? Man könnte auch andersherum fragen: Ist unsere Meinungsvielfalt vielleicht schon eine Schimäre? Oder: Wozu brauchen wir die vielen Blätter und Sender noch, wenn bei den großen Themen alle in Gleichschritt verfallen? Wie weit sind wir entfernt von der Koreanischen Zentralen Nachrichtenagentur KCNA, die Feinde des großen Führers immer gleich »ausmerzt«?

Neben solch grundsätzlichen Fragen gibt es auch jede Menge handwerklichen Pfusch zu bestaunen. Das Tempo wird immer rasanter. »Man muss die Medien intensiv betreuen«, sagt Ypsilanti, »denn alle sagen: Wir müssen sofort schreiben.« Sie habe Journalisten von führenden Blättern erlebt, die nach drei Fragen in fünf Minuten am Telefon ein ausführliches Psychogramm geschrieben hätten. Eine Autorin, von ihr später darauf angesprochen, habe geantwortet: »Ich habe mich über Sie erkundigt – in Berlin.«

Wobei Ypsilanti sich mühte, viel mitzumachen. Sogar das rote Abendkleid anzog, das die Bunte fürs Foto mitbrachte. Aber was tut eine Politikerin, wenn im Internet plötzlich der Schulweg ihres Sohnes diskutiert wird? Weil die CDU die Tatsache ausschlachten möchte, dass die allein erziehende Mutter ihn auf einer Privatschule, der einzig verfügbaren Ganztagsschule in der Nähe, untergebracht hat? Was tut sie, wenn ein Privatsender anruft und sich ein Stimmenimitator als Franz Müntefering ausgibt? Wenn ein anderer Sender bei den Nachbarn klingelt und fragt, was die eigentlich von ihr halten? Wenn das Hessische Fernsehen ihr Haus mit Hausnummer abfilmt? Prompt kamen Drohbriefe: Wir fackeln eure Bude ab. Die Polizei musste kommen.

Bald war alles Boulevard. Das Layout von Bild schnitt »Lügilanti« die Beine ab, wickelte »Tricksilanti« eine Schlange um den Hals. »Wir haben bald überhaupt nicht mehr über Politik geredet«, staunt die Politikerin. Wobei sich manche Medienleute, sagt sie, auch sehr korrekt verhielten. Die CDU-Pressekonferenz in der Schule ihres Sohnes etwa hätten viele boykottiert. Einige Journalisten größerer und kleinerer Blätter, erzählt Ypsilanti, seien sogar zu ihr gekommen, um zu signalisieren, dass sie leider so schreiben müssten, weil ihre Chefs dies wünschten, auch wenn sie es persönlich weder richtig noch fair fänden. Als alles vorbei war, wurde sie zum Mainzer Mediendisput eingeladen, einer selbstkritischen Runde, zu der alljährlich Hunderte Medienleute nach Mainz kommen. Dort sprach sie, recht zurückhaltend, über den erdrückenden Mainstream in den Redaktionen. Und erntete heftigen Beifall. »Da fragte ich mich. Was machen die alle?«, sagt Ypsilanti, »gehen die jetzt raus und machen weiter?« Genau. Spiegel Online meldete sogleich: »Ypsilanti schmollt im Mainzer Wohlfühlexil.«

Frisur und Charakter

Die SPD kennt Macher und Gemachte. In dieser Partei herrscht ein geradezu ehernes Gesetz, dass die Linke am Schluss zu verlieren hat. Die vereinigte öffentliche Meinung geht da inzwischen ganz konform. Ein kurzes Gedankenexperiment: Was geschähe, wenn sich vier linke SPD-»Abweichler« anschickten, eine Koalition mit der CDU oder der FDP zu verhindern? Antwort: Ihnen widerführe, was die SPD-Abtrünnigen im Bundestag beim Agenda-Schwenk des Gerhard Schröder erlebten – die Leitmedien würden sie in die nächste erreichbare Erdspalte rammen. Ein politisch seitenverkehrter Fall Ypsilanti hätte auch innerhalb der SPD nukleare Erschütterungen zur Folge. Ein siegreicher rechter »Hoffnungsträger«, zu Fall gebracht von öffentlichen Wahl-Warnungen eines linken Ex-SPD-Bundesministers, hintertrieben von zwei linken Vize-Bundesvorsitzenden, sabotiert von einer kleinen Schar linker Abweichler im Parlament, die nach hundert gegenteiligen Beteuerungen in allerletzter Minute verkünden, sie würden ihn nicht wählen? Ein Steinmeier würde in solch einer Situation knallhart die Machtfrage stellen und vielleicht diskret eine Schlägertruppe in Marsch setzen. Ein Steinbrück würde an jähem Bluthochdruck zugrunde gehen.

Dagmar Metzger aber wird zur Heldin geadelt, als sie im April 2008 Ypsilantis ersten Versuch einer Regierungsbildung vereitelt. Die FAZ feiert sogleich die »standhafte SPD-Abgeordnete«, dank derer »dieser 5. April nicht mehr der Krönungstag Frau Ypsilantis« sei.80 »Sie ist Deutschlands ehrlichste Politikerin. Sie stoppte die linke Nummer«, lobt Bild in einem feinen Text: »Wenn es stimmt, dass die Frisur einer Frau auch etwas über ihren Charakter verrät, dann bei Dagmar Metzger (49) wohl dies: Beharrlichkeit, Gradlinigkeit, Rechtschaffenheit, Standfestigkeit.«81 Der Politikprofessor Gerd Langguth fordert auf Spiegel Online: »Mehr Metzgers für Deutschland.«82 Wobei dem Leser die Information erspart bleibt, dass der Herr Professor der CDU bis hinauf in den Vorstand gedient hat, gerne artige Biografien über Merkel und Köhler verfasst und überhaupt ein überraschungsfreier 1a-Parteigänger ist.

Als dann im November drei weitere Sozialdemokraten in letzter Minute den zweiten Anlauf stoppen, tröten die Siegesfanfaren. »Dem beherzten und beherrschten Quartett gebührt das Verwundetenabzeichen in Gold«, donnert Zeit-Herausgeber Josef Joffe, der Donald Rumsfeld der deutschen Publizistik, unter der Überschrift »Stalin am Main«: »Dass die hessische Partei so unmenschlich mit ihren Widerständlern verfährt, ihnen Ehre und Charakter abschneidet, möge sie dereinst vor der Himmlischen Internationalen verantworten. Warum aber übernimmt die schwatzende Klasse die Sprache der Ypsilantisten?«83

Die »schwatzende Klasse« tut das genaue Gegenteil. Sie windet jenen Politkern, die nach vielen Zusagen und Loyalitätsbekundungen im letzten Moment alles platzen ließen, Lorbeerkränze. Und kann nicht verstehen, dass die SPD, um alles gebracht, nun erschüttert und verbittert ist. »Hexenjagd« nennt es die FAZ,84 wähnt das Quartett »im Schraubstock der Parteiräson«.85 Der »Umgang mit den vier Kritikern«, findet eine Kommentatorin des Deutschlandfunks, hätte »zur Linkspartei mit ihrer SED-Vorgeschichte gepasst«.86 Die »drei neuen Widerständler« wirken auf den Stern, »als wären sie aus den Klauen einer bösartigen Sekte entflohen«.87 Sie erlebten, fühlt der sonst so beinharte Spiegel, eine »eisige Kälte«.88 Noch Fragen?

Zur Rache, Schätzchen

Am 18. Januar 2009 verliert die Sozialdemokratische Partei Deutschlands in Hessen 391 616 Wähler, stürzt von 36,7 auf 23,7 Prozent. Noch vor Schließung der Wahllokale verlangt Peer Steinbrück den Rücktritt von Andrea Ypsilanti. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung begeht den Freudentag mit einem Kommentar ihres erzkonservativen Polit-Chefs Zastrow: »Zur Rache, Schätzchen!«89 Der lässt noch einmal den »tatsächlich einmaligen Wahlbetrug« Revue passieren – »von vornherein kühl kalkuliert«. Um sodann das Denkmal der vier Abtrünnigen, der »fantastischen Vier«, zu errichten: »An diesen Politikern wird verehrt, dass sie nicht mehr fummeln und tricksen, keine faulen Kompromisse mehr machen wollten.« Leicht wohl hätten sie auf anderen Wegen zurück in den Landtag finden können, räsoniert der Autor: »Aber sie wollten ihre sozialdemokratischen Herzen nicht an den Biegungen des Rheins oder der Lahn begraben.«

Zastrow hatte sich schon zuvor als einer der emsigen Ypsilanti-Basher bewährt. So half er das Gerücht zu verbreiten, Ypsilanti sei 2006 »durch die Hintertür« zur Spitzenkandidatin gemacht worden.90 Er lancierte auch die Story, SPD-Abgeordnete seien im November 2008 gedrängt worden, eine korrekte Stimmabgabe »mit einem Handyfoto zu beweisen«. Eine Titel-Story, die über Agenturen und etliche Online-Auftritte rasante Verbreitung fand. CDU und FDP echauffierten sich enorm, drohten gar mit einem Untersuchungsausschuss. Bis Frankfurter Rundschau91 und Süddeutsche Zeitungrecherchierten. Sie entdecken »viel Lärm um wilde Gerüchte« und »nicht den Hauch eines Belegs«.92

Pointe im Sommer 2009: Zastrow legt einen Roman über die SPD-Abweichler vor: »Die Vier. Eine Intrige«. Eigentlich, erklärt er, sollte es »eine Heldengeschichte« werden. Tatsächlich gerät sie höchst ambivalent. Ypsilanti verabscheut er noch immer. Die vier Verhinderer aber sind ihm nun auch nicht mehr geheuer. Was fürs große Ganze nicht länger von Belang ist. Sein Koch, der »überaus sachkundige Ministerpräsident«, sitzt wieder sicher in der Staatskanzlei. Da kann sich ein Zastrow entspannt den lässlichen Details widmen, dem Unkraut im roten Hinterhof. Und liefert die ganze Story, auf 411 Seiten, mit Dagmar Metzgers Skifahrten, Silke Teschs Gewichtsproblemen, Carmen Everts? Wimperntusche und Jürgen Walter in der Badewanne. Inklusive tiefer Erkenntnisse – etwa der, dass Parteien den Zusammenhalt brauchen. Oder der, dass Wölfe und Schimpansen »große soziale Jäger« sind.93 Sogar der, dass seine Christdemokraten die Finger im Spiel hatten.

Es war »eine Inszenierung von Politik«, sagt Zastrow nun im ZDF. Man spüre »so etwas wie Begleitschutz«. Sein Bild von Politik habe sich verändert, bekennt der erstaunte Redakteur. Seine eigene Rolle aber reflektiert er lieber nicht. Politik, glaubt er, sei wohl »so etwas wie die Erbsünde. Es ist der Weg, andere Menschen dazu zu bringen, den eigenen Willen zu erfüllen.«94 Das ist Politik hoffentlich nicht. Zum publizistischen Selbstverständnis der Seinen aber könnte der Satz wohl passen.

*) Dieser Text ist ein Kapitel aus dem Buch "Am besten nichts Neues – Medien, Macht und Meinungsmache" von Tom Schimmeck, erschienen 2010 im Westend Verlag, Frankfurt am Main.

FUßNOITEN

1 Zeit, 50/2006
2 Focus, 29/2007
3 Welt, 13.1.2008
4 Spiegel, 21.1.2008
5 Spiegel, 5.5.2003
6 WamS, 20.1.2008
7 Welt, 28.1.2008
8 Welt, 5.3.2008
9 Zeit, 6.3.2008
10 Welt, 28.1.2008
11 Zeit, 22.1.2009
12 DLF, 7.3.2008
13 FR, 8.3.2008
14 FR, 11.3.2008
15 Tagesspiegel, 5.4.2008
16 Stern, 13.3.2008
17 der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Rainer Wend, in der BamS, Peter Struck in der WamS, »Seeheimer«-Sprecher Klaas Hübner im Tagesspiegel, 7.3.2008
18 taz, 10.3.2008
19 Beck 2008
20 Tagesspiegel, 28.2.2008
21 SpiegelOnline, 29.3.2008
22 Tagesspiegel, 31.10.2008
23 Tagesspiegel, 13.11.08
24 Interview mit Hit Radio FFH
25 Tagesspiegel, 9.11.2008
26 11.11.2008 bei Beckmann
27 Tagesspiegel, 28.12.08
28 Tagesspiegel, 13.11.08
29 Pressemitteilung Hauer, 30.10.2006
30 Spiegel, 10/2008
31 Stern, 12/2008
32 Schröder lt. Focus, 28.3.2008
33 Spiegel, 6.8.2007
34 SZ Magazin, 29/2007
35 Focus, 28.3.08
36 SZ, 17.1.2009
37 Focus Online, 7.3.2008
38 Stern, 12/2008
39 DLF, 20.6.2008
40 Tagesspiegel, 14.9.2008
41 Zeit, 11.9.2008
42 FAS, 16.3.2008
43 FAS, 9.11.2008
44 Focus, 46/2008
45 Welt, 17.9. 2008
46 FAZ, 7.10.2008
47 SpiegelOnline, 7.10.2008
48 SZ, 7.10.2008
49 FAZ, 16.8.2008
50 Bild, 12.8.2008
51 Müller-Vogg: Volksrepublik Deutschland, 2009
52 Stern, 21.8.2008
53 Tagesspiegel, 5.10.08
54 Stern, 30.10.2008
55 www.demuth-corporate.de
56 Cicero, November 2008
57 Welt, 28.10.2008
58 Pressemitteilung BMU, 15.03.2009
59 Spiegel, 3.11.2008
60 Welt, 14. 4.2008
61 SpiegelOnline, 3.11.2008
62 Stern, 30.10.2008
63 Focus, 17.11.2008
64 Focus, 25.8.2008
65 Tagesspiegel, 14.11.2008
66 Zeit, 30.10.2008
67 SZ, 7.11.2008
68 SZ, 20.11.2008
69 FR, 3./4.11.2008
70 Stern, 30.10.2008
71 Bild, 4.11.2008
72 Stern, 21.8.2008
73 FR, 25.9.2008
74 Zeit, 30.10.2008
75 FAZ, 3.11. und 4.11.2008
76 Stern.de, 5.11.2008
77 Stern, 6.11.2008
78 Zeit, 13.11.2008
79 SZ, 17.11.2008
80 FAZ, 30.3.2008
81 Bild, 7.3.2008
82 SpiegelOnline, 10.3.2008
83 Zeit, 20.11.2008
84 FAZ, 6.11.2008
85 FAZ, 8.11.2008
86 DLF, 19.11.2008
87 Stern, 6.1.2008
88 Spiegel, 10.11.2008
89 FAS, 18.1.2009
90 FAS, 7.12.2008
91 FR, 9.12.2008
92 SZ, 9.12.2008
93 Zastrow 2009, S. 143, 327, 309, 89
94 ZDF, 10.8.2009


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