TOM SCHIMMECKs ARCHIV
2005

Die Stadt, die tickt

Glashütte, ein Städtchen in Sachsen, hat seinen alten Ruf als Hort der Uhrmacherkunst zurückerobert. Mit viel Handwerk, Tatendrang und einer guten Mischung von High und Low Tech.

von Tom Schimmeck

Z

eit spielt keine Rolle hier. Sie fließt langsam dahin, kaum hörbar. Nur ein Ticken hie und da. Ein Ort so ruhig, dass man die eigenen Schritte hört. Da, wo die schönsten Zeitmesser hergestellt werden, wird Zeit kaum gemessen.

Zeit darf keine Rolle spielen. "Die Uhr muss optimal sein", sagt der Konstrukteur in der alten Chronometrie oben am Erbenhang. "Dafür muss man sich Zeit lassen." Thierry Albert, 32, ist ein Fremder. In den Tälern Sachsens, nicht in der Welt der Zeitmessung. Mit Uhren hat er sich seit der Kindheit beschäftigt, daheim in Frankreich, dann im berühmten Schweizer Vallée de Joux, wo Charles-Antoine LeCoultre schon Mitte des 19. Jahrhunderts hochpräzise Zahnräder und Achsen und später ganze Uhrwerke schuf.

Der junge Monsieur Albert will alle Fertigkeiten beherrschen, deshalb hat er Uhrmacher, Feinmechaniker und Restaurator gelernt. Und ist weitergezogen nach Sachsen, in jenen abgeschiedenen Winkel, wo die Prießnitz in die Müglitz fließt. Da, wo deren enge Täler ein T bilden, nicht weit von Dresden, nahe an Tschechien, liegt Glashütte. Auf den ersten Blick nur ein Kaff. Unter Uhrmachern eine Legende.

Monsieur Albert könnte sich auch vorstellen, in Brasilien am Meer zu arbeiten. Oder Punkmusiker zu werden. "Warum denn nicht?", fragt er mit charmantem Singsang. Er strahlt, als wolle er die Welt umarmen. Albert ist ein Paradiesvogel. Seine Worte flattern leicht. Doch eigentlich will er nur eines: "Extrem elegante Uhren bauen". Also sitzt er in diesem schmalen sächsischen Tal und leitet die Abteilung Forschung und Entwicklung einer kleinen Uhrenfirma namens Nomos. Was im Kern bedeutet, dass er den ganzen Tag tüfteln kann. Ideal.

Der Konstrukteur träumt von einem neuen Tourbillon – eine Uhr mit einem Mechanismus, der den Einfluss der Erdanziehung auf die Ganggenauigkeit kompensiert. Im Tourbillon, zu deutsch: Wirbelwind, bewegen sich Ankerrad, Anker und Unruh in einem Käfig. Das winzige Ding sitzt auf der Welle des Sekundenrades, wandert folglich binnen einer Minute einmal im Kreis und nimmt so jeder Unwucht die Wirkung. Erfunden hat ihn vor gut zwei Jahrhunderten Abraham Louis Breguet, ein Meisteruhrmacher, der für Marie Antoinette, Napoleon und Herrscherhäuser von Spanien bis Russland produzierte.

Uhrenfreunde sind verrückt nach solch aufwendiger Finesse, "Komplikation" genannt, oder vornehmer "Complication". Das Ideal: Ein Maximum mechanischer Wunderwerke in ein Minimum an Raum zu zwängen. Als Gipfel gilt die legendäre Grande Sonnerie, die alle Uhrmacher-Attraktionen vereint: Den ewigen Kalender, die Gangreserveanzeige, eine zweite Zeitzone, ein zweites Federhaus, eine Minutenrepetition – und natürlich ein Tourbillon. Als der berühmte Uhrenschöpfer Gérald Genta 1994 seine "Grande Sonnerie" präsentierte, galt sie mit ihren über 1000 Teilen als komplizierteste Armbanduhr der Welt. Eine der teuersten war sie auch. Kostenpunkt: Eine Million Dollar.

"Das ist sehr, sehr schön, wenn man so etwas machen darf", findet Monsieur Albert und treibt seine Finger zu immer feinerem Tun. "Das ist vielleicht wie komponieren. Man vergisst ein bisschen die Welt drum herum." Kein Wunder, meint der Konstrukteur, dass Uhrmacher in der Schweiz, im Schwarzwald und in Sachsen die Einsamkeit brauchen, die Berge, diese Stille, besonders im Winter, wenn der Schnee alle Geräusche schluckt. "Ohne Ruhe kann man überhaupt nichts machen."

Nur – wozu braucht man Uhren an so zeitlosen Orten? "Ja", flötet Monsieur Albert, "ja das ist ein Rätsel."

 ***

 Gelächter hallt aus dem Aufenthaltsraum, Linoleum quietscht. Plötzlich ist Leben in den Fluren der Uhrmacherschule am Ortsende. Pause. Eine Schar Schüler hockt zwischen Kaffee- und Colaautomaten auf Sitzmöbeln der Vorwendezeit, schnattert in breitestem Sächsisch. "Ich hab's noch nicht bereut", sagt Cornelia, Lehrling im dritten Jahr und kurz vor der Abschlussprüfung. Sie mache das aus "Freude an der Technik". Und außerdem, gibt Freundin Melanie zu bedenken, "können wir in dem Beruf schlecht ausgewechselt werden durch irgendwelche ungelernten Arbeiter." Die Nachfrage nach den Ausbildungsplätzen hier ist groß.

Um 7.10 Uhr beginnt der Unterricht. Jäh wird es leise im Schulgebäude. Draußen zwitschern Vögel in den hohen Birken, Kastanien, Kiefern. "Es sind sehr ruhige, saubere exakte, sensible Menschen", lobt Fachleiterin Marion Vogler ihre Schützlinge. Sie war schon zu DDR-Zeiten dabei, als hier die "Maka" residierte – das Makarenko Ausbildungswerk. Ein Blick in die Vitrinen im Flur verrät: Hier braucht man Geschick, Ausdauer und ein gutes Auge. In den Schaukästen stehen alte Stanzen, Zahnradwälzmaschinen und Rundlaufzirkel. Und winzige Rädchen, Federn, Kloben, Brücken und Triebe. Allein die vielen Schrauben, oft kaum größer als Fliegendreck: Glocken- und Sperrradschrauben, Zifferblatt-, Federkern-, Riegel-, Ansatzschrauben und etliche mehr. Ein alter Meister hat den Satz geprägt: "Metall erzieht."

Im dritten Jahr, erzählen Cornelia und Melanie, quälen sie sich gegenseitig mit Uhren, in die gezielt Fehler eingebaut wurden. Das bringt ihnen Spaß. Was nervt, sind die lieben Verwandten und Bekannten. "Jetzt kommen sie alle an und wollen 'ne Uhr repariert haben", sagt Cornelia und dreht die Augen zur Decke.

 ***

Hübsch herausgeputzt sind die Häuser, frisch gepflastert die Straßen. Viel los ist hier nicht. Sind ja auch nur 2500 Leute, plus noch einmal so viele in verstreuten Satelliten wie Schlottwitz und Bärenhecke. Es gibt einen Optiker, einen Schlachter, den Supermarkt Pfennigpfeiffer und ein Dessous-Studio namens "Hautnah". Das Bistro "H4" (Hauptstrasse 4) offeriert gehobenes Imbissfutter, der Schreibwaren- und Getränkeladen einen Kräuterlikör, der "Glashütter Uhrenöl" heißt. Man kann kegeln und klöppeln, am Wochenende ein bisschen Kino gucken. Ende.

An einem schönen Sonnentag sieht man Glashütte nicht an, welch übergroße Portionen von Leid dieser Ort erfahren hat: Krieg, Pest, Feuersbrünste, Fluten. Die letzte Schlammwalze donnerte am Nachmittag 12. August 2002 durchs Städtchen. Die Müglitz war zum reißenden Strom angeschwollen, ein Rückhaltebecken der Prießnitz gebrochen. Als das Wasser abgeflossen war, gab es keine Bahnlinie mehr, keine intakte Straße, keinen Kindergarten, keinen Sportplatz, keinen Strom, kein Gas, kein Trinkwasser und kaum Telefon. Schlimm waren die Verwüstungen auf der "Uhrenmeile" – so nennen sie hier die Altenberger Straße entlang der Müglitz.

Doch Glashütte ist versiert im Wiederauferstehen. Auch die Flut konnte die Renaissance der Uhrmacherstadt nicht aufhalten. Nach der Wende haben es hier alle geschafft: Der Glashütter Uhrenbetrieb GUB – Rechtsnachfolger der DDR-Uhrenfabrikation, die neu geborene Traditionsfirma Lange, auch Nomos, von einem verrückten Wessie aufgezogen. Und die Spezialfirma Mühle am Ende der "Uhrenmeile", auf nautische Instrumenten spezialisiert.

Ungebrochen scheint die Vitalität dieser neuen alten Industrie. Sie wirkt – umwogt von Pleitewellen, inmitten zerplatzender Träume und vertrocknender Landschaften – wie der Anachronismus schlechthin. Welch ein Kontrapunkt: Luxusfabrikation im tiefsten Osten. Glashütte – das gallische Dorf der deutschen Feinstmechanik.

Herzog Georg der Bärtige gewährte den Bewohnern dieses Örtchens im östlichen Erzgebirge anno 1506 das Recht, hier "eine Stadt zu bauen und aufzurichten". Viel Stadt kam nicht zusammen. Doch die steilen, bewaldeten Hänge gaben Zinn, Silber und gutes Eisenerz her, sogenanntes Glaskopferz. Was eine von mehreren Erklärungen für den Namen Glashütte liefert.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gingen die Bodenschätze zur Neige. Auf Missernten folgte Hunger. Rettung kam in Gestalt des Ferdinand Adolph Lange, Sohn eines Büchsenmachers, ausgebildet Dresdner vom Hofuhrmachermeister Johann Christian Friedrich Gutkaes. Lange war selbst zu einem kreativen Meister herangereift, hatte Frankreich, England und die Schweiz bereist. In den Wanderjahren entstand sein Kapital: Ein Skizzenbuch voll mit Tabellen, minutiösen Zeichnungen von Uhrwerksteilen und Zahnradübersetzungen und Notizen in gestochener Handschrift.

Im Januar 1844 schrieb er an den Geheimen Regierungsrat von Weißbach: Angesichts der "großen Noth der Bewohner des Erzgebirges" habe er den Plan gefasst, "die Uhrmacherkunst zu reformieren und den Grund zu Uhrenfabriken in unserem Vaterlande zu legen". Was "wohl zu gleicher Zeit das beste Mittel böte, einer armen Bevölkerung, die in Bezug auf Ackerbau und Handel sich in den ungünstigsten Verhältnissen befindet, Nahrung und Wohlstand zu geben".

Standortpolitik würde man das heute nennen. Die Landesregierung zahlte ein Darlehen von 6700 Talern. Die ersten neuen Arbeitsplätze in Glashütte nahmen ein Malergehilfe, ein Steinbrucharbeiter, ein Landarbeiter, ein Winzergehilfe, zwei Dienstburschen und zwölf Strohflechter ein. Uhrmachermeister Lange machte aus ihnen Spezialisten. Schnell wuchs eine veritable Industrie. Das kleine verschlafene Glashütte mauserte sich zu einer Art Watch valley. Neue Betriebe entstanden: Firmen wie Assmann, Strasser & Rohde und die "Union". Patriarch Lange diente viele Jahre als Bürgermeister.

Feinmechanik war bald überall. Auch die "Archimedes", die erste deutsche Rechenmaschine, kam von hier. Als Sohn Emil Lange 1900 als Preisrichter zur Pariser Weltausstellung reiste, arbeiteten daheim bereits an die 50 Uhrenbetriebe. Der Ruf Glashüttes als Zentrum des deutschen Uhrmacherhandwerks war etabliert. 1910 baute die Uhrmachervereinigung URANIA eine eigene Sternwarte auf den Hang im Osten, dem Ochsenkopf. Zwei Jahre später bekam Glashütte ein neues Stadtwappen. Hammer und Schlegel, die Zeichen des Bergbaus, schrumpften zusammen, machten Platz für ein großes Zifferblatt.

 ***

"Es geht um die Schönheit der Teile, neue Funktionen, andere Anordnungen", sagt Helmut Geyer, 64, Uhrwerkskonstrukteur bei Lange. "Wir können das Rad nicht neu erfinden. Jede Uhr bei uns hat wieder eine Unruh, eine Hemmung, ein Federhaus mit einer Feder." Was zählt? Die Ästhetik, die Raffinesse der Konstruktion und das kleine, feine Detail. Das "Zero Reset" in der Langematik zum Beispiel – ein kleiner Mechanismus, der bewirkt, dass der Sekundenzeiger beim Ziehen der Krone automatisch auf die 12 springt. So lässt sich die Uhr leichter genau stellen.

Helmut Geyer ist ein Theoretiker, kein Uhrmacher. Er kam in den 50ern als Teenager nach Glashütte, studierte Elektrotechnik. Und hätte sich wohl kaum träumen lassen, dass er im nächsten Jahrtausend mit Hilfe moderner Computer alte Mechanik verfeinern würde. Rein zeitmesstechnisch gesehen ist das ja grober Unfug. "Wer die Zeit ganz genau wissen will", erklärt Geyer hart und unromantisch "kauft sich 'ne Quarz-Uhr."

Es gab eine Zeit, da war das "in". Da war der Quarzantrieb ein Fortschrittssymbol. In den 60ern und 70ern stürzte der neue Pfennigartikel aus Fernost die mechanische Uhrenindustrie in den Abgrund. In der Schweiz kostete die "Quarzkrise" Zehntausende den Job.

Unter wahren Uhren-Freaks aber gilt Quarz längst als seelenlos. Sie wollen wieder Mechanik von Meisterhand. Monsieur Albert oben in der Chronometrie findet das human. "Braucht man als Mensch eine Sekunde?, fragt er. "Sagt man: 'Verzeihung, ich bin eine Sekunde zu spät.'?" Er kichert. Die Vorstellung eines Menschen mit einer Funkuhr, der sekundengenau zum Rendezvous kommt, findet der Uhrmacher "ein bisschen erschreckend". Nein, er wolle nicht exakt die gleiche Uhrzeit haben wie jedermann. Die mechanische Uhr ist für ihn Symbol des Lebens: "Man steht auf, man zieht auf, man lebt weiter."

***

Was nicht heißt, dass sie hier bei der Herstellung mechanischer Uhren Fünfe grade sein lassen. Oh nein. Auch bei der Mechanik zählt  höchste Genauigkeit. Tagelang spannen die Uhrmacher ihre Werke in merkwürdige Karussells, um den Gang in allen Lagen zu prüfen. Sie packen sie auf "Zeitwaagen", die den Abstand zwischen Tick und Tack exakt messen und so kleinste "Abfallfehler" ermitteln, Zeitdifferenzen von Millisekunden. Dann wird nachreguliert, an winzigen Schräubchen gedreht, mit dem Rücker die Länge der Spirale eingestellt. Immer wieder.

Ganz ohne moderne Maschinen geht es auch in den Manufakturen nicht mehr. Drahterosionsmaschinen fertigen hier winzige Teile, Hebelchen und Federn, mit Toleranzen im Tausendstel-Millimeterbereich. Große, computergesteuerte CNC-Fräsen werkeln wie von Geisterhand vor sich hin. Motoren brummen, Kühlflüssigkeit zischt.

Das Gros aber bleibt Handarbeit. Wochenlang wird für eine Uhr geschliffen, poliert, gepresst, geschraubt und immer wieder gemessen, jedes einzelne Teil. Die Uhrmacher sitzen an hohen Tischen, das Werkstück in Augenhöhe, die Ellenbogen auf speziellen Stützen, umringt von feinsten Schraubendrehern, Pinzetten, Lupen, Öldöschen und Fettdöschen diverser Sorten, auch Benzin, zum Saubermachen. "Falls ich mich mal verölt habe", sagt Uhrmacherin Kerstin Richter.

Der Schliff schafft die Schönheit. Klassisch die Perlage auf der Dreiviertelplatine, dem Fundament der Uhr: Lauter winzige Wölbungen, von Hand mit einem rotierenden Gummistift und Diamantstaub hineingedrückt. Manche Rädchen bekommen den Glashütter Sonnenschliff, eine strahlenförmige Zierde. Graveure schmücken selbst kleinste Teile mit Ornamenten. Schrauben werden im Ofen bei 295 Grad gebacken, bis sie eine tiefblaue Farbe annehmen. Die passt gut zu den kleinen roten Rubinen, die als Lagersteine dienen. Um die hübschen Früchte all der Plackerei bewundern zu können, haben Glashütter Uhren oft einen Glasboden. Besonders edle Modelle werden auch "skelettiert" – Teile des Zifferblattes ausgespart, um das schlagende Herz der Uhr sichtbar zu machen.

Es ist eine enorme Fummelei. Schon für die Montage eines "einfachen" Drei-Zeiger-Uhr brauchen geübte Hände rund elf Stunden. Kompliziertere Werke, mit Datum und Mondphasenanzeige etwa, nehmen eine gute Woche in Anspruch. Prunkstücke wie die Lange 1 Zeitzone (417 Teile) oder der "Panoretrograph" von Glashütte original (463 Teile) bedeuten einen Monat Arbeit und mehr – für einen Meister.

Wird man nicht wahnsinnig, wenn man den ganzen Tag still auf Kleinstteile starrt? "Ja", meint Lange-Lehrmeister Sebastian Rentzsch. "Acht Stunden lang auf zehn Zentimeter Entfernung mit der Lupe gucken – das geht nicht. Die Konzentration hat keiner von uns." Zwischendurch müsse man mal mit dem Nachbarn quatschen oder aus dem Fenster schauen – "damit man die Augen wieder für's Weite öffnet".

Man sollte wohl den passenden Charakter haben. "Ich habe Geduld. Und ich puzzele gern", meint Lehrling Bettina, ganz begeistert von der Uhrmacherei. "Zuhause habe ich eher Stress, aber auf Arbeit hab' ich meine Ruhe". 

***

In der Ortsmitte steht sie noch, die ehemalige Deutsche Uhrmacherschule von 1878, einst das Mekka der Zunft. Ein würdiger brauner Bau, mit hübschen Engelchen an der Freitreppe. Er ist leer und ein bisschen heruntergekommen. Die große Uhr an der Stirnseite funktioniert noch.

Tradition, das ist das Pfund von Glashütte. Nun wuchert die Stadt wieder damit. Vor allem, seit Lange wieder da ist. Denn, o Wunder, es gab noch einen Lange: Walter Lange, Urenkel des Ferdinand Adolph. Und, Wunder Nummer zwei: Er war sofort willens, zurückzukommen.

"In Glashütte war ein Niedergang sondergleichen. Es war alles arbeitslos", erzählt der 81jährige Urenkel in seinem Büro oben im Dachgeschoss von A. Lange & Söhne. Er spricht nicht von der Wende, sondern von der Weimar Republik, der Zeit nach Weltkrieg und Wirtschaftskrise, in die er 1924 hineingeboren wurde, hier in Glashütte. "Auch die Firma Lange arbeitete nur stundenweise, um die Facharbeiter zu erhalten. Am Eisenrohrgeländer vor dem Stammhaus standen die Arbeitslosen und rauchten. Das war für mich ein Kindheitstrauma."

Abends schritt der Herr Vater zur Endkontrolle. Da herrschte Ordnung: Die Blaukittel standen an den Maschinen, die Weißkittel waren "schon was Besseres", erinnert sich Lange. Über alle herrschten jene Meister, die die Uhren justierten: "Die Herren Regleure, das war die oberste Schicht. Die kamen mit Stehkragen." Oft begleitete Klein-Walter den Papa. Man drückte ihm irgendwelche Teilchen in die Hand. "Da hab ich dann dran 'rumgeschraubt".

Walter Lange war Volksschüler, als Hitler an die Macht kam. Später ging er auf die Uhrmacherschule im niederösterreichischen Karlstein, dann in den Krieg, kehrte nach einer langen Odyssee als Verwundeter heim. Die Firma Lange baute derweil kriegswichtiges Gerät. Ganz Glashütte bestückte Jagdflieger, Panzer und Torpedoboote mit Instrumenten, konstruierte Spezialuhren für Piloten und Kampfschwimmer und "Artillerie-B-Uhren mit Stoppzeiger". Am Morgen des letzten Kriegstages, dem 8. Mai 1945, fiel eine Bombe in die "Werft", das Hauptgebäude von A. Lange & Söhne, bis hinunter in den Keller, wo Maschinen standen und viel Öl. Um neun Uhr war alles ausgebrannt.

Später rollten Glashütter Fabrikationsanlagen waggonweise gen Russland. Onkel Otto wollte wieder Taschenuhren bauen, Walter und sein Vater Armbanduhren. Der Streit war müßig: 1948 kam die Enteignung. Das Sekretariat der SED-Kreisleitung setzte den Uhrmacher Erich Vogel, "Glashütte/Sachsen, Karl-Marx-Str. 4" als Geschäftsführer der VEB Lange ein. Walter Lange sollte im Uranbergbau schuften. Da floh er nach Berlin, weiter in den Harz, nach Bayern und schließlich per Fahrrad noch 300 Kilometer bis Pforzheim.

Später, ab1976 kam Walter Lange immer wieder zu Besuch, traf alte Freunde, geisterte durch die Büsche aufs Betriebsgelände der GUB. "Ich bin wie ein Verbrecher hier durch Glashütte geschlichen", sagt Lange. Nie hätte er geglaubt, hoer noch einmal Uhren bauen zu können.

 "Es liegt irgendwie in den Genen. Der Urgroßvater ist in dieses gottverlassene Glashütte gegangen, um ein neues Gewerbe herzubringen. Ich bin hergegangen mit dem Ziel, hier wieder Beschäftigung herzubringen." Über 700 Menschen arbeiten heute wieder in der hiesigen Uhrenindustrie, fast die Hälfte davon bei Lange. " Das ist doch toll", sagt der Urenkel. "In so 'nem kleinen Nest." 

***

Zauberei? Welche DDR-Industrie hat schon überlebt? Das Geschäft läuft blendend. Meist sind die teuren Lange-Uhren schon verkauft, bevor sie überhaupt hergestellt wurden. 121 Juweliere weltweit vertreiben die feinen Stücke, zu Preisen ab 8300 Euro aufwärts. Eine Lange 1 Tourbillion in Rotgold liegt über 80 000 Euro, für Spezialaufträge mit üppigem Brilliantenbesatz kommt schnell eine Viertelmillion zusammen. "Glashütte Original", die Marke der GUB, verlangt ähnlich viel. Glashütter Uhren sind sehr begehrt, berichten die Verkäufer, "der Preis ist nach oben offen".

Zahlen nennen die Großen nicht gern, feilen lieber am Image. Lange ist ganz Understatement – klar, schlicht, edel. Glashütte Original sucht noch seinen Stil. Der kleine Konkurrent Nomos gibt sich schnörkellos pur – à la Bauhaus. Wenn es sonst nichts Neues gibt, färbt Nomos frech die Zifferblätter bunt – "datschenbraun", "eiswasserweiß", "hausmausgrau" oder "matschgrün". Da lacht der Kunde.

Anfangs, kurz nach der Wende, drohte auch diesem Standort ein schnelles, tristes Aus. Was half: Die Tradition riss nie völlig ab. Auch zu DDR-Zeiten wurde weiterfabriziert, von den "Glashütter Uhrenbetrieben", in der die enteigneten Firmen aufgingen: Lange, Mühle, UROFA, UFAG und die anderen. An die 2500 Menschen schufteten "in der GUB". Das Großkombinat Elektronik und Feinwerktechnik, zu dem auch die Uhrenfabrikation in Ruhla und Glashütte gehörte, ließ viele billige Uhren fürs Volk bauen. Wobei Ruhla immer den schlechteren Ruf hatte. "Willst du deinen Freund bescheißen, kaufe ihm ein Ruhla-Eisen", reimten die Glashütter. Gar nicht nett, diese Genossen.

Made in Glashütte hingegen blieb etwas Besonderes. Für die Erbauer des Palastes der Republik gab es eine Glashütte-Uhr, auch "für 30jährige Dienstzeit in den Organen des Ministeriums des Innern". Das Städtchen war eine eigene Welt. Das Kombinat kümmerte sich um Kindergarten, Kultur, Gesundheit, Sport und den Urlaub im eigenen Ferienheim an der Ostsee. "Ich war der zweite Bürgermeister", spottet der alte Siegfried Bellmann, die graue Eminenz am Ort. Ein Vierteljahrhundert lang hat er als GUB-Betriebsdirektor die Geschicke Glashüttes gelenkt. "Und ich stehe auch dazu. Vieles war gut."

Er kommt wie der typische DDR-Senior daher: Hellgraue Freizeitjacke, leise, unscheinbar. Doch wenn er erzählt, fliegt der Funke wieder. Bellmann und seine Leute reisten sogar nach Japan, um sich Quarz-Knowhow zu beschaffen. Importe aus dem Westen waren unmöglich – Quarzantriebe galten als Rüstungsgut. Also machten sie die Dinger selber – für Uhren, auch für Herzschrittmacher. Exportierten schließlich sogar gen Westen. Manche Quelle-Uhr der Marke Meisteranker kam aus Glashütte, in den 80ern auch sechsstellige Stückzahlen von Tchibo-Uhren. Keine mechanischen Wunderwerke, aber solide. Und die Partei? "Wir führten jedes Jahr 15 bis 20 Millionen Gewinn an den Staat ab" sagt Bellmann. "Da gab es keinen Druck."

Solide blieb zu DDR-Zeiten auch die Uhrmacherausbildung, sagen Kenner. Man bewahrte Qualitätsbewusstsein, besann sich zum Ende gar auf alte Tugenden und plante das Comeback der mechanischen Uhr. Dann kam die Wende. Die Uhrmacher zitterten. Der Laden war viel zu groß, zu teuer, nicht "marktfähig". "Wir wussten sofort: Das gibt Massenentlassungen", erinnert sich Frau Richter. Zu hunderten rief man die Uhrmacher in den Speiseraum der GUB. "Und jeder bekam einen Entlassungsbrief."

Ihr Mann holte ab, sah zufällig einen Anschlag am schwarzen Brett: Lange suchte "Spitzenuhrmacher". Er fand, da solle sie sich bewerben. "Spitzenuhrmacher!", schnaubte sie deprimiert. "Nie im Leben! " Schließlich schrieb sie doch hin, wurde eingeladen zur Vorstellung, erzählte den Herren da gleich, dass sie in der GUB nur Spiralen gerichtet hatte die ganzen Jahre. "Man kann alles lernen oder?", fragte der neue Geschäftsführer von Lange, der Herr Blümlein.

Kerstin Richter kam zur Fortbildung zur IWC nach Schaffhausen. Sie nahm ihren alten Hefter aus der Lehrzeit mit, saß abends manchmal heulend im Hotelzimmer: "Das schaffst du nie." Aber es ging. Ganz wunderbar. Jetzt macht sie Endmontage bei Lange, setzt mit schnellen Fingern komplizierteste Modelle zusammen. "Heute baue ich mit die tollsten Uhren, die es zu kaufen gibt", sagt Frau Richter stolz.

***

Uhren sind längst ein globales Geschäft. Konzerne übernehmen. Die GUB ist seit 2000 im Besitz der Swatch-Group, mit Edelmarken wie Breguet, Longines und Omega. Lange & Söhne wurde zunächst Teil der LMH[1]–Gruppe, die Mannesmann gehörte – bevor dort Vodaphone einstieg und alles Telefonfremde abstieß. So kam Lange zur Richemont AG, wo auch Namen wie IWC, Jaeger-LeCoultre und Piaget zuhause sind.

Nein, auch Glashütte ist nicht mehr autark. Es hat Kämpfe gegeben. In manchem Gespräch spürt man Blessuren und Bitterkeit. "Die spielen jetzt ein anders Spiel", sagt Nomos-Chef Roland Schwertner, der Sicherheitsabstand zu den Großen hält. "Eigentlich sind wir zu klein." Immerhin hat er den Juwelier Wempe als Partner. Auch den zieht es nach Glashütte. Wempe baut die alte Sternwarte am Ochsenkopf wieder auf. Zur Uhrenfertigung. Und als Chronometerprüfstelle. Sternwarte soll sie auch wieder werden.

Uns selbst der Düsseldorfer Schwertner hat hier ein Würzelchen – einen Patenonkel ganz in der Nähe, Onkel Heini aus Kunersdorf. Dunkel erinnert er sich an Kino und den Geschmack von Ost-Eis, als zehnjähriger Steppke. Als die Mauer fiel, kurvte er, der Freiberufler ohne Kapital, mit einem alten Ford 17M Coupé ins Tal. Er wollte plötzlich dringend Uhren bauen. "Das war alles sehr wackelig", sagt der Wessie. Jetzt läuft es. "Keiner geht freiwillig von Düsseldorf nach Glashütte, um irgendeinen Mist zu machen. Über jedem wabert hier noch der alte Lange, an dem sich alle messen müssen."

***

Die ältesten Schätze kommen zu Restaurateur Rainer Pellmann, 63, einem Autodidakten aus Dresden. Nach der Wende machte er sich selbständig. "Da habe ich praktisch in ein leeres Loch gestochen und angefangen, Gehäuse zu restaurieren und neu zu bauen." Das macht im deutschsprachigem Raum sonst keiner mehr.

Doch Pellmann hatte mit den Folgen einer Kinderlähmung zu kämpfen. Bei Lange & Söhne kam er mitsamt seiner Werkstatt unter, restauriert hier nun seltene Meisterwerke, von überall her, aus den USA, Frankreich, Japan. Oft gibt es keine Zeichnungen und Teile mehr, dann recherchiert er in Museen, studiert alte Verkaufsbücher und beginnt, ganz neu zu zeichnen, zu konstruieren, Bleche zu drücken, Kronen und Bügel herzustellen. "Das ist immense Feinarbeit", sagt Pellmann, "man braucht die Liebe und das Interesse." Er kann Zeiger herstellen, die nur 0,2 Millimeter dick sind. Aber das ist anstrengend. Manchmal fallen ihn um acht Uhr abends die Augen zu.

In seiner Werkstatt steht eine bizarre Mischung von High und Low Tech: Ein topmodernes Lasergerät, mit dem der Restaurateur Gold, Platin, Silber zuleibe rückt, auch ein chices Wasserstoffschweißgerät und ein Mikroskop mit Innenlicht. Daneben eine alte Mechanikerdrehbank, eine Gravierfräsmaschine von 1936 und seine beste Bohrmaschine – ein Fundstück aus dem Schrott, angetrieben per Riemen von einem Waschmaschinenmotor. "Da ist ein Hebel dran, der direkt überträgt", sagt Pellmann. "Damit hat man unheimliches Gefühl."

Ja, er kann alles. Fast alles. Andächtig zieht Pellmann eine uralte Uhr hervor, mit einem Zifferblatt aus Emaille, handbemalt. Wie neu. "Wahnsinn", raunt der Restaurateur, voller Respekt für das Können der alten Meister, die noch nicht einmal Strom hatten. "Unterm Mikroskop sieht man die kleinen Unterschiede. So glatt und sauber, das kriegt man heute nicht mehr hin."

Auch nicht mit den besten Maschinen? "Nein", meint Pellmann kopfschüttelnd. "Wer das bringt, der hat 'ne goldene Nase."

Autor Tom Schimmeck, 45, war begeistert über den Stolz und die Hingabe der wunderbaren Uhrmacher von Glashütte. Eine Uhr aber trägt er noch immer nicht.


HomepageLeitseite

Mind your step Copyright: Tom Schimmeck
Jede Weiterverwendung von Texten und Bildern auf dieser Website bedarf der Genehmigung