„Kaum ein Ansatz tastet sich an Gewalthandeln als soziales Geschehen heran und fragt, was dort eigentlich vorgeht“ Rezension: Laura Wolter: Vom Antun und Erleiden. Eine Soziologie der Gruppenvergewaltigung. Hamburger Edition. 310 Seiten. 35 Euro. von Tom Schimmeck Seit den 1990ern ist Vergewaltigung als Kriegswaffe zum Thema geworden für Medien wie für die Forschung. Es begann mit den Kriegen in Ex-Jugoslawien, besonders in Bosnien. Auch aus Ruanda, Liberia, dem Irak wurde berichtet, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen gezielt verübt wird, um den Feind zu schockieren, zu erniedrigen und "psychisch zu zerstören", wie es Pramila Patten, UN-Sonderbeauftragte für sexuelle Gewalt in Konflikten, ausdrückt. Auch aus der Ukraine gibt es jetzt zahlreiche Berichte über Vergewaltigungen durch russische Soldaten. Collage Die Kölner Silvesternacht 2015, sie wurde schnell zur Chiffre der deutschen Debatte über Geflüchtete und die Aufnahmebereitschaft der Gesellschaft. Große Tätergruppen, zumeist junge Männer nordafrikanischer Herkunft, so wurde berichtet, hätten das Gedränge der Feiernden auf der Domplatte genutzt, um Frauen systematisch zu umzingeln und anzufassen, obendrein zu bestehlen. Die Polizei sprach von "Nafris", ihr Kürzel für "Nordafrikanische Intensivtäter"; Die Politik versuchte, Entschlossenheit zu verströmen. Viele Medien bilanzierten bald einen "Wendepunkt in der Flüchtlingsdebatte" oder erspähten sogar das Symbol einer "gescheiterten Flüchtlingspolitik". Vier Wochen später verkündete die Bundesregierung ein neues "Asylpaket". Marokko, Algerien und Tunesien wurden zu "sicheren Herkunftsländern". Selbst Donald Trump nutzte die Gelegenheit, seinen Millionen Followern das mahnende Beispiel aus Deutschland zu präsentieren. Laura Wolters: In der Sozialwissenschaft würde man von einer "Moralpanik" sprechen. Dieser Empörung, dieses Entsetzen angesichts dieser Übergriffe, und daraus folgend der Eindruck, dass das ein riesiges Problem sei, dass überall in der Gesellschaft jetzt relevant wäre, das war schon überwältigend. Damit war ja nicht zu rechnen vorher. Die Sozialwissenschaftlerin Laura Wolters hatte wenige Wochen vor dieser Silvesternacht ihr Promotionsstipendium am Hamburger Institut für Sozialforschung angetreten. Eigentlich mit der Absicht, sich mit Vergewaltigung im Krieg zu beschäftigen. Doch die Wucht dieser Ereignisse veränderte ihren Fokus. Vor allem die Diskrepanz zwischen den vielfältigen Zuschreibungen und dem minimalen Wissen über das tatsächliche Geschehen erregte ihre wissenschaftliche Neugier. "Insgesamt bleibt bei aller Diskussion über die Kölner Silvesterübergriffe ein soziologisches Kernanliegen überraschend unthematisiert: die Interaktion also das, was dort zwischen allen Beteiligten auf dem Bahnhofsvorplatz vorgeht." (Buchzitat) Fünf Jahre später bilanzierte die Staatsanwaltschaft: "In Folge der Kölner Silvesternacht hatte es 1210 Strafanzeigen gegeben. 46 Personen waren angeklagt, 36 verurteilt worden. Unter den Anklagen waren fünf wegen sexueller Nötigung, die mit zwei Verurteilungen endeten." Laura Wolters: Ich würde immer sagen, die Antwort auf die Frage "Was ist da vorgefallen?" hängt extrem an der Frage: "Was möchte ich eigentlich erklären?" In dem Buch beschreibe ich das in drei Ebenen: Möchte ich kausal erklären, was da passiert ist? Möchte ich eine Verantwortungszuschreibung leisten möchte ich sagen: Wer ist denn nun eigentlich schuld an dem, was da passiert ist? Oder möchte ich meine Gesellschaft erklären, möchte ich erklären, in welcher Art von Gemeinschaft diese Gewalt überhaupt erst möglich wurde. Schon diese Antwort zeigt, wie präzise und zugleich behutsam Wolters ihre Gedanken knüpft. Immer wieder prüft die Forscherin ihre Annahmen, klopft die Begriffe ab, tritt dann noch einen Schritt zurück, um genauer zu gucken, wie hier Täter und Opfer, auch Ermittler und Forscher, wie die Medien und ihr Publikum agieren und reagieren. Also mit welchen Absichten, Interessen, Schablonen hier gehandelt und gedeutet wird. Beim Lesen schaut man ihr zu wie jemandem, der eine Natursteinmauer aufschichtet, jeden Stein genau einpassend und auf festen Sitz prüfend. Das ist keineswegs ermüdend, vielmehr wirklich anregend. Wolters gut gelüftete Sprache hilft der Leserin, dem Leser dabei, ihrer Arbeit an diesem schweren Thema fasziniert zu folgen. "Kaum ein Ansatz tastet sich an Gewalthandeln als soziales Geschehen heran und fragt, was dort eigentlich vorgeht oder wie die Beteiligten diese Frage beantworten würden. Ob aber eine Handlung als sexuell erlebt wird, ob ihre Ausübung durch eine Gewalthemmung gestört ist oder ob die Täter sie in Kameraderie oder Konkurrenz ausüben, das sind Fragen, die man letztlich nur mit einem sehr genauen Blick in die Empirie beantworten kann." (Buchzitat) Wolters liefert. Nein, das ist kein Buch über Köln, auch wenn die Silvesternacht 2015 immer wieder auftaucht. Wolters hat Fälle in Deutschland studiert, fügt aber auch Vignetten aus aller Welt hinzu, Gewaltmomente in Orten wie Paris, New York, Kairo, Neu-Delhi oder Sydney. Die verdichteten Fallschilderungen stammen oft aus Gerichtsakten, enthalten viel Originaltext. Sie sind mitunter schwer zu ertragen. Doch immer überwiegt das Erkenntnisinteresse. Die Soziologin will nicht vordergründig schockieren. Ihre Vignetten sind Schautafeln entlang der drei großen Pfade, die auf ihr Thema hinführen, beschildert mit den Begriffen Gewalt, Sexualität und Gruppe. Besonders erstaunt habe sie, sagt Laura Wolters, wie oft Täter trotz allgewaltiger Übermacht versuchen, vom Opfer noch Zeichen der Mitwirkung und Einwilligung zu erschleichen oder zu erzwingen. Laura Wolters: Da ist das Messer an der Kehle. Da wird Leib und Leben bedroht. Aber selbst dort bemühen sich die Täter darum, das Opfer dazu zu bringen, mitzumachen und verbal ja zu sagen. In ihren Augen ein Versuch, das Opfer in die Tat zu verstricken und diese so normativ zu neutralisieren. Der Versuch, sexuelle Gewalt auf einen brauchbaren soziologischen Begriff zu bringen, sei produktiv gescheitert, schreibt Wolters im Fazit. Wie überhaupt immer die Gefahr da sei, solche Gewaltpraktiken in der Beschreibung zu relativieren und zu banalisieren. Doch gehe es auch darum, "das Normale in der Brutalität und das Perfide im Normalen" zu erzählen, meint die Autorin. Was ihr in diesem klugen Buch gut gelungen ist.
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