„Optimismus ist
nochmal was anderes.“

Rezension: Jan-Werner Müller – "Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit – Wie schafft man Demokratie?" Suhrkamp, 240 Seiten, 24,00 €,
ISBN 978-3-518-42995-2.

von Tom Schimmeck

Sein Essay „Was ist Populismus?“, 2016 erschienen, war so etwas wie ein intellektueller Straßenfeger. Seither gilt der Politikwissenschaftler und Historiker Jan-Werner Müller, Professor an der Princeton University, als treffsicherer Diagnostiker der Gegenwart. Die Populisten dieser Welt begegnen uns auch in seinem aktuellen Buch. Mit „Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit“ tritt Müller jedoch noch zwei Schritte zurück, um die größere Frage im Untertitel ins Visier zu nehmen: „Wie schafft man Demokratie?“
Seine besondere Aufmerksamkeit gilt den Institutionen, insbesondere den Parteien, Medien, aber auch der Rolle der Bürger, die sich aus Müllers Sicht nicht darauf beschränken dürfen, im Sessel sitzen zu bleiben.

Mit dem Hochmut der liberalen Eliten und ihrer Kundschafter hatte Jan-Werner Müller schon immer Probleme. Obwohl – oder gerade, weil der Professor aus Princeton wohl zu ihnen zählt. Ihre Deutungen erscheinen ihm oft zu schlicht. Sie sind, das lässt er im Gespräch schnell durchblicken, in seinen Augen seit dem Brexit und der Wahl Donalds Trumps vor fünf Jahren nicht besser geworden.

Müller: „Es ist aus meiner Sicht ein Problem, dass wir gerade seit diesem doppelten Schock von 2016 dazu tendieren, entweder dem Volk die Schuld zu geben. Gerade im weitesten Sinne liberale Beobachter suhlen sich ja geradezu in den Vorurteilen der Massenpsychologie des 19. Jahrhunderts, also: das einfache Volk, die sind alle so irrational. Diese Massen, die warten ja immer nur darauf, von großen Demagogen verführt und abgeholt zu werden. Oder, umgekehrt, diese zum Teil allerdings auch etwas simple Elitenkritik, wo man sagt: Nee, es liegt aber nur an den Mächtigen oder am Neoliberalismus et cetera et cetera.“

Wer aus der Geschichte unbedingt einfache Lehren ziehen wolle, meint Müller, dürfe sich merken, dass es selten demokratische Massen sind, die der Demokratie den Garaus machen. Und verweist darauf, dass Benito Mussolini vor bald hundert Jahren gemütlich per Schlafwagen in Rom einrollen konnte, nachdem ihm Italiens liberale Eliten und der König freie Hand gegeben hatten, mit dem vermeintlichen Chaos des Parlamentarismus aufzuräumen.

ZITAT „Zweifellos hatte seine Faschistische Partei hoch motivierte Unterstützer, und dasselbe galt für die Nationalsozialisten in Deutschland. Doch auch dort fasste den entscheidenden Beschluss, Hitler an die Macht zu bringen, was man heute wohl das konservative Establishment nennen würde.“

Nur nicht einrasten bei allzu gängigen Deutungen. Was bei all dem Gestarre auf Personen oft schmerzlich zu kurz komme, argumentiert Jan-Werner Müller, sei der Blick auf die Institutionen.

Müller: „Und Demokratie braucht Institutionen. Sie braucht, sehr offensichtlich, Wahlen, weniger offensichtlich: Sie braucht, meiner Ansicht nach, immer noch politische Parteien, an die man aber auch ganz besondere Anforderungen stellen muss. Sie braucht professionelle Medien. Sie braucht eine ganze Reihe von Institutionen.“

Gerichte, Gewerkschaften, NGOs und viele mehr. Wobei der Autor Parteien und professionellen Medien das Gros seiner Aufmerksamkeit schenkt. Ihr Siechtum, mancherorts ihr Sterben, müsse viel genauer betrachtet werden, findet Müller. Und geht fröhlich ans Werk.

ZITAT „Über Institutionen nachzudenken, heißt nicht, Politik auf Prozesse und Verfahren zu reduzieren. Entscheidend ist die Prüfung der Prinzipien, die die Regeln des demokratischen Spiels und dessen informelle Normen eigentlich erst beseelen und rechtfertigen.“

Bei der Inspektion der Organisation von Demokratie geht sein Blick zurück bis zur Volksversammlung der ständig streitenden Athener. Immer wieder stellt er die Grundfragen der Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit und der fairen Repräsentation. Eines seiner eingängigen Grundprinzipien: Demokratie ist nur echt, wenn auch mal die Mächtigen verlieren. Hier kommt das Element der Ungewissheit ins Spiel.
Ein zweites Müller’sches Prinzip lautet: Niemals darf der Status des Bürgers als freies, gleiches Mitglied des Gemeinwesens untergraben oder gar negiert werden.
ZITAT „Wenn dieser Status nicht mehr gilt, dann ist das Spiel vorbei – das Spiel, in dem alles Übrige, von materiellen Interessen bis hin zu sexuellen Identitäten, zum Gegenstand von auch ganz harten Konflikten gemacht werden kann, ohne dass dadurch das die Bürger einende Band zerrissen wurde. In der politischen Auseinandersetzung darf man anderen Bürgern unfreundlich kommen, ohne dass dies als Missachtung verstanden wird – aber man darf nicht sagen: ‚Du bist an sich ein Bürger zweiter Klasse.‘ Oder auch: ‚Du gehörst hier gar nicht hin.‘“ Gerade die Demokraten warnt Müller vor Arroganz.

Müller: „Es gab lange die Meinung, dass Demokratien zwar ständig Fehler machen, aber letztendlich haben wir das einzig lernfähige System. Wir machen die Fehler, aber wir können die Fehler auch zugeben, wir können die Fehler auch korrigieren. Und die Autoritären oder in diesem Fall auch die Populisten, die sind im Grunde alle stupide, die werden alle enden wie die Sowjetunion 1991 – weil die können keine Fehler korrigieren, die können nicht lernen et cetera.“
Ein folgenschwerer Irrtum, meint Müller. Und beschreibt, wie Figuren wie Orbán in Ungarn und Kaczynski in Polen in der Pose der Führer von Mainstream-Parteien ans Ruder kamen.

ZITAT „Im Falle Ungarns wurde diese Selbstdarstellung von den mächtigsten Christdemokraten Europas zertifiziert – den Bayern mit ihrer Autoindustrie.“
Sobald ihre Macht zementiert war, begannen sie, politische Institutionen nach Gutdünken umzubauen. Und zelebrierten dieses, wie alle Populisten, als Sieg eines ultimativen Volkswillens.

Zunächst aber möchte sich Müller sogenannte Bürgerliche vornehmen, schon aus strategisch-pragmatischen Gründen: „Sogenannte Mainstream-Parteien, die aber sehr viel zum Mainstreaming von zum Teil Rechtsaußen-Positionen beitragen – Rutte in den Niederlanden, Macron in Frankeich, das passiert ständig. Und an diese Parteien und Personen kommt man vielleicht noch eher ran als – in Anführungszeichen – ‚normaler Bürger‘. Während, wenn Sie oder ich jetzt morgen bei Frau Le Pen vorstellig werden und sagen: ‚Wir haben nochmal ein paar Sachen über den Pluralismus zu sagen‘, weiß ich nicht, ob uns da so die Türen aufgemacht würden.“

Jan-Werner Müller ist ein belesener Autor mit Welthorizont. Das hat manchmal etwas Tänzelndes, wirkt aber nie naseweis. Er öffnet Fenster in alle Himmelsrichtungen, spielt uns den Sound von Indiens Narendra Modi und Brasiliens Jair Bolsonaro, bereist mit uns viele Länder, immer wieder auch seine Wahlheimat USA. Und beobachtet dabei sehr präzise die vielen Techniken der Aushebelung von Demokratie – durch Demagogie und Drohgebärden, durch Geldflüsse und Günstlingswirtschaft.

Dabei ist Müller nicht unbedingt bequem. Er lässt uns Leser nicht im Sessel sitzen. Repräsentation ist für ihn „ein Kampfaufruf“.

ZITAT „Man hat heute keinen besonderen Grund, optimistisch hinsichtlich der Demokratie zu sein. Jene, die sie untergraben wollen, perfektionieren mindestens ebenso eifrig eine populistisch-autoritäre Regierungskunst, wie die Verteidiger der Demokratie deren Krise analysieren. Und es werden einen auch weder Gerichte noch irgendwelche paternalistisch eingestellten Demokratieschutz-Profis retten. Das können letztlich nur mobilisierte Bürger.“

Demokratie ist nicht Apathie, glaubt Müller, sie brauche unabdingbar die auch mal überraschende Wendung. Das kann ein mutiges Erwachen sein, wie etwa bei den Protesten gegen den weißrussischen Diktator Alexander Lukaschenko. Oder eine Enthüllungstat wie die von Edward Snowden, der, so Müller, die Regeln verletzte, „um den hinter den Regeln stehenden Geist zu retten“.

Müller: „Wir müssen nicht alle Snowden werden. Aber gerade im deutschen Kontext, wo ja, gerade seit 2015, das Wort Zusammenhalt einen riesigen Erfolg feiert – also alle Parteien wollen Zusammenhalt, Zusammenhalt ist immer die Antwort auf alles, ist es vielleicht erwähnenswert, dass Demokratie natürlich auch Konflikt heißt.“

Fest steht für ihn: Eine Rekonstruktion von Demokratie nach dieser Phase des autoritären Populismus wird nicht nur viel Kraft, sondern auch Phantasie brauchen.
Manchmal scheint es, als wolle er seine Zunft zügig überflüssig machen: Weg von allzu viel quälender Krisendiagnostik, hin zur Tat. Will Müller uns womöglich Mut machen?

Müller: „Also es sollte jetzt keine – um Gottes Willen – quasi-amerikanische Übung in positivem Denken sein, oder so eine Art pep talk. Am Ende heißt es ja auch ganz explizit: Man kann und soll Hoffnung haben, denn es gibt gute Gründe dafür. Aber Optimismus ist nochmal was anderes.“


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