„Wir haben uns an solche Nachrichten gewöhnt. Aber das macht sie kaum weniger obszön.“ Rezension: Noam Chomsky, Marv Waterstone: Konsequenzen des Kapitalismus Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand. Übersetzt von Michael Schiffmann. Westend Verlag, 464 Seiten, 30 Euro von Tom Schimmeck "Given US extraordinary power, what happens here Noam Chomsky, Jahrgang 1928, ist sicher der bekannteste Kritiker des amerikanischen Kapitalismus die Stimme der USA, die den amerikanischen "way of life" als solchen in Frage stellt. Schon in den 1960er Jahren war der Professor am Massachusetts Institute of Technology ein prominenter Gegner des Vietnam-Krieges. Doch die Erinnerung der 93jährigen reicht viel weiter zurück. In den 1930ern, so erzählt er in unserem Gespräch, lauschte er als Jugendlicher im Radio Hitlers Tiraden. Er habe die Worte nicht verstanden, sagt Chomsky. Aber die Stimmung gespürt. Die Book Review der New York Times hat ihn einmal als "wichtigsten Intellektuellen der Gegenwartì bezeichnet. Chomsky, mit diesem Zitat konfrontiert, zitiert mit dem ihm eigenen Humor gern den Satz, der diesem Lob folgte: "Wenn dies der Fall ist, wie kann er dann solchen Unsinn über die amerikanische Außenpolitik schreiben?" Seit einigen Jahren lehrt der Professor an der Universität von Arizona. Zusammen mit seinem Freund und Kollegen Marvin Waterstone, ein Geograf und Kulturhistoriker, hält er eine Vorlesungsreihe, die das große Ganze in den Blick nimmt. Noam Chomsky: Sie sehen im Buch, wie das funktioniert: Eine Vorlesung von ihm, eine von mir. Und wir bringen Leute von außen hinein Aktivisten, die ihre Erfahrungen beschreiben. Dann versuchen wir, die allgemeinen Nachwirkungen des Spätkapitalismus in der heutigen Welt, seine Ursprünge und Hintergründe bis ins 17.Jahrundert zu betrachten. Konsequenzen des Kapitalismusì soll sozusagen den kapitalistischen Status quo reflektieren. Hauptziel, heißt es im Vorwort, sei "ein gründliches Nachdenken über die heute vorherrschende Art der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Organisation der Gesellschaft und die Herstellung der theoretischen, historischen und praktischen Beziehungen zwischen dieser Form der sozialen Organisation und den Folgen, die die unvermeidliche Konsequenz dieser gesellschaftlichen Praxis sind." Es geht auf den 460 Seiten tatsächlich um alles: Um Militarisierung und Umweltgefahren, Neoliberalismus und die soziale Kluft, die sich, wie in den Schlusskapiteln über Kapitalismus und Covid eindrucksvoll beschrieben wird, in Zeiten der Pandemie noch einmal radikal vertieft hat. Zitiert wird eine Studie, der zufolge sich das Vermögen der zehn reichsten US-Amerikaner binnen 22 Monaten mehr als verdoppelt habe. "Der Zuwachs um 731 Milliarden bedeutet, dass diese zehn Personen täglich um über eine Milliarde Dollar reicher wurden, also jede Minute um 75 600 Dollar. Das ist nur etwas weniger als das durchschnittliche jährliche Haushaltseinkommen in den USA.Die 156 reichsten Menschen der USA besitzen jetzt laut Daten der Federal Reserve Bank mit 3,4 Billionen Dollar ebenso viel Vermögen wie die gesamte untere Hälfte aller US-Haushalte zusammengenommen.ì Noam Chomsky: Wir haben uns an solche Nachrichten gewöhnt. Aber das macht sie kaum weniger obszön. Nicht umsonst haben Chomsky und Waterstone viel Raum der Frage gewidmet, wie wir eigentlich zu unserem Verständnis der Zusammenhänge kommen, woher wir das Wissen nehmen, das wir über die Welt zu haben glauben. Mit dem Begriff des "common sense", des "gesunden Menschenverstandesì stellen sie den durchschnittlich intelligenten Bürger und seine "unhinterfragten, als gegeben hingenommenen Mechanismen" auf den Prüfstand. Beginnend bei der vergleichsweise schlichten Frage, wo sein Nachrichtenfutter herkommt. "1983 wurden 90 Prozent dessen, was US-Bürger lasen, sahen und hörten, von 50 Konzernen kontrolliert; 2012 waren es nur noch sechs. Und selbst die Zahl sechs ist etwas irreführend, weil all die Querverbindungen zwischen diesen Unternehmen die Zahl der groflen Akteure letztlich auf noch weniger als sechs reduziert." Das reicht von Antonios Gramscis Begriff des Intellektuellen bis zum liberalen Philosophen David Hume, der schon im 18. Jahrhundert staunte, "mit welcher Leichtigkeit die Vielen von den Wenigen regiert werden und die unausgesprochene Unterwerfung zu beobachten, mit der die Menschen ihre eigenen Wünsche und Leidenschaften zugunsten der Wünsche und Leidenschaften ihrer Herrscher aufgeben." Noam Chomsky hat sich als Linguist, Philosoph und leidenschaftlicher Anarchist viel mit dem Wesen der Propaganda beschäftigt, mit der Frage, wie eine Gesellschaft Konsens herstellt. Und er hat, früh geprägt vom Spanischen Bürgerkrieg, dem Siegeszug des Faschismus und der Bombardierung Hiroshimas, immer danach gestrebt, einen in seinen Augen falschen Konsens aufzusprengen durch mehr Information, schärfere Analyse und Empathie mit den Opfern. Auch diese Vorlesungsreihe will die Welt nicht einfach nur zusammendenken. Die beiden Autoren wollen Handlungsoptionen für Widerstand aufzeigen. "Außerdem hoffen wir, durch die Aufdeckung der strukturellen systemischen Grundlagen Maximen für die politische Zusammenarbeit und das Bündnis von unzähligen verschiedenen Gruppen zu erarbeiten." Wobei den bekannten sozialistischen Gegenmodellen eine sehr knappe Absage erteilt wird: "Bei den Systemen in der untergegangenen UdSSR oder im heutigen Nordkorea, China, Kuba, Vietnam und anderswo, bei so gut wie all diesen Experimenten, von denen viele vom Marxismus oder Sozialismus inspiriert waren, haben wir es in Wirklichkeit mit einem Staatskapitalismus zu tun, der lediglich etwas anders aussieht als im Rest der Welt. Das ist nicht die Alternative." Die Welt, sagt Chomsky im Gespräch, befinde sich derzeit in einer Phase deutlicher Regression. Auf die Frage, wie es sich in einem Land lebe, als dessen härtester Kritiker er gilt, lacht er. Noam Chomsky: Ich preise es unentwegt. Auch in diesem Buch lobe ich die Menschen in diesem Land, aber nicht die Politik der Regierung. Eines der wichtigsten Ziele dieses Buches und meiner Arbeit der letzten 60 Jahre ist es, den Aktivismus großer Teile der Bevölkerung zu unterstützen. Der hat dieses Land zivilisiert. Durch ihn ist es ein viel besseres Land geworden.
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