TOM SCHIMMECKs ARCHIV
1994
 

Lenins Revier

ORTSTERMIN SCHWERIN: Wie die PDS in einer Hochburg um ein Direktmandat im Bundestag kämpft

S
o ein freundlicher Mann, der Herr Scherling. Sehr positiv kommt der 37jährige daher, fast jungenhaft. Ein blonder Diplom-Agraringenieur „mit offenem, kritischen Blick, gewinnendem Lächeln“, wie es in seinem Wahlkampfflugblatt heißt.

Für den Bundestagswahlkreis Schwerin-Hagenow, will der PDS ein Direktmandat erkämpfen. Das ist nicht aussichtslos: Seit der Kommunalwahl im Juni ist die Partei mit 34 Prozent stärkste Fraktion im Stadtparlament. Zugleich lehnten über 50 Prozent der Schweriner die Landesverfassung ab – wie es die PDS empfohlen hatte.

Lutz Scherling, Kandidat für den Bundestagswahlkreis Schwerin-Hagenow, will der PDS ein Direktmandat erkämpfen. Das ist nicht aussichtslos: Seit der Kommunalwahl im Juni ist die Partei mit 34 Prozent stärkste Fraktion im Stadtparlament. Zugleich lehnten über 50 Prozent der Schweriner die Landesverfassung ab – wie es die PDS empfohlen hatte.

In der Stadtverordnetenversammlung hat eine Große Koalition die Wahl eines PDS-Bürgermeisters verhindert. Nun führt die PDS-Opposition die Regierenden genüßlich vor, vor allem auf der „sozialen Flanke“, berichtet Scherling, der auch Abgeordneter im Stadtparlament ist. „Das ist hübsch, das macht Spaß.“ Die Stimmung sei „phantastisch“.

So einen kann die PDS gebrauchen: optimistisch, ambitioniert, den Blick in die Zukunft gerichtet. Ein locker-gepflegter Typ, in Jeans und weinrotem Hemd, der sich abhebt von jener graumäusigen Truppe, die noch arg nach Funktionär riecht. Natürlich blickt auch Scherling auf eine Karriere vor der Vereinigung zurück, über die er, falls noch jemand fragen sollte, auch redet. Schon als Student hatte er Parteifunktionen, stand dann im Sold der SED, war jüngster Sektorenleiter beim Rat des Bezirkes – „dat war schon ziemlich wat Dolles“, spottet er. Alles hat sich so ergeben. „Früher“, sagt Scherling, „war stets vorher klar, wo man hinkam.“ Selbst die Noten auf der Parteischule hätten vorab festgestanden. Doch habe er sich „immer auf der richtigen Seite gewähnt“ und sei doch „relativ kritisch“ gewesen.

Alles ist relativ, alles verschwimmt. Das Kapitel Spießer-&-Spitzel-Staat ist abgehakt. Das scheint auch Linie der Partei zu sein: Nichts glorifizieren, aber auch keine übertriebene Zerknirschung zeigen. Vergangenheitsbewältigung? Typische Wessi-Arroganz, hier in Schwerin derzeit „nicht besonders hilfreich“, wie ein Grüner vorsichtig anmerkt.

„Man muß der Zeit die Stirn bieten, sonst kostet es den Kopf“, steht in großen Lettern an der Schweriner PDS-Parteizentrale. Drinnen herrscht unverdrossener Aktivismus. Der Wahlkampf läuft, für Land- wie Bundestagswahlen. Ständig kommen Rentner vorbei, die ehrenamtlich die Wahlkampfzeitung „stecken“ wollen. Von einst 19 000 SED-Mitgliedern sind 1600 übrig, organisiert in drei Betriebs- und etwa 90 Basisorganisationen, „BOs“, wie man hier sagt. 40 Prozent der Mitglieder sind älter als 60, nur jeder zehnte ist unter 30.

Noch immer gibt es einen biologisch bedingten Schwund. Aber die PDS hat mehr Mitglieder als alle anderen Schweriner Parteien zusammen.In der Wendezeit habe die Partei zuweilen dem öffentlichen Druck nachgegeben, sagt Angelika Gramkow, Kreisvorsitzende, Stadtverordnete und Landtagskandidatin. Aber bei ihr wird „keiner ausgegrenzt“. Wer einen Posten will, muß seine Biographie offenlegen. Natürlich gebe es da auch Leute, die was mit dem Ministerium für Staatssicherheit zu tun hatten. „Wenn sie gewählt wurden, steht die Partei auch hinter denen.“ Würde sie Leute ausschließen, die zu stark belastet erscheinen? „Ich werd ’nen Teufel tun“, sagt sie brüsk.

In den Regalen drängen sich die blauen und braunen Bände der „Klassiker“, dazu drei Leninfiguren und eine Marx-Büste. Ein Marx- und ein Engels-Porträt, die man „irgendwo gerettet“ hat, lehnen an der Wand, Che Guevara hängt. Die Aktion „Cuba Si“ läuft auf vollen Touren – Spenden für ein Landwirtschaftsprojekt. In einer Ecke stapeln sich säckeweise rote Socken – eigens hergestellt für PDS-Fans, etwa als baumelndes Bekenntnis am Auto-Rückspiegel.

Schwerin ist ein hübsches Städtchen. Die Fassaden werden allmählich bunter, die Straßenbahnen fahren jetzt „Bild“-Reklame umher, das Angebot ist vom Businesshotel bis zum Wasserbettenstudio reicher geworden. Liebknecht, Thälmann, Pieck und Grotewohl sind von den Straßenschildern im Zentrum verschwunden. Der Leninplatz heißt nun Marienplatz, die Leninallee draußen in der Plattenbausiedlung Großer Dreesch heißt Hamburger Allee. Lenin ist gleichwohl präsent, als Denkmal. Es soll, das hat die PDS durchgesetzt, bleiben, sein Umfeld gar begrünt, und, verlautbart die Stadtverwaltung, „ein bißchen schicker gemacht werden“. Wenn Geld da ist.

In der Großsiedlung liegt die PDS klar vorn – in einem Stimmbezirk bekam sie genauso viele Stimmen wie CDU, SPD, FDP, Bündnis 90 / Grüne und Neues Forum zusammen. Die Partei, sagt Mario vom Sprecherrat, zeige „regelmäßige Präsenz“, mit Sozialberatung, Infoständen, Kaffeeklatsch und Bürgerforen. 80 Prozent der Aktiven sind Rentner. Sozialisten mit Häkeldeckchen, die stolz berichten, man habe sich in der Wendezeit selbst gegenüber enttarnten Spitzeln „sehr kulturvoll verhalten“.

Blitzumfrage auf einem kleinen Markt: Warum ist die PDS hier so stark? „Vielleicht war doch nicht alles Scheiße, was wir hier im Osten hatten“, sagt eine junge Frau grinsend. „Gibt hier einen Haufen Arbeitslose. Als Hiesiger hast du kaum ’ne Chance“, sagt der Gemüsehändler. Die PDS wolle sich „für die Arbeiter einsetzen“, ruft die Wurstverkäuferin, „das hat zu lange gedauert mit Kohl. Ich krieg’ hier 800 Mark.“ Daß es die Nachfolgepartei der SED ist, stört sie null: „Nö, uns ging’s ja damals gut. Warum soll das nicht wieder so werden.“

Von Arbeitslosigkeit und hohen Mieten ist viel die Rede. Aber auch von der guten alten Zeit: Früher, da wurden zwei Kasten Bier gekauft, gegrillt, im Partykeller gefeiert. Früher habe man gemeinsam die Grünanlagen gepflegt und Tischtennis gespielt. Warum tun sie es nicht mehr? Da murmeln sie meist nur etwas von „Ellenbogengesellschaft“.

Es ist nicht so, daß sich alle bettelnd über das Pflaster schleppen. Aber sie fühlen sich abgedrängt, verunsichert, nur als historisches Objekt. Trotzige Sehnsucht kommt auf. Der Schülerrat an seiner Schule, berichtet der Lehrer Peter Brill, hat vergangenes Jahr die Wiedereinführung von Pioniernachmittagen gefordert. „Es macht sich zunehmend eine DDR-Nostalgie breit“, sagt der PDS-Aktivist. „Oft mehr, als einem lieb ist.“

Die Menschen können nicht ohne Geschichte leben“, meint Klaus Schwabe, einst aus der SED gefeuert, weil er Mißstände aufgelistet und nach Moskau geschickt hatte. Die Hinwendung zur PDS sei Verdrängung und Bekenntnis zugleich.

Schwabe ist heute Chef des Landesarchives, sitzt – Ironie der Geschichte – auf einem Kilometer SED-Akten, plus FDGB- und FDJ-Material, weitere 1500 Meter. „Keiner will sich mit Geschichte auseinandersetzen.“ Die PDS habe einfach die Hardliner in die zweite und dritte Reihe versetzt, die „intellektuell und emotional Akzeptablen“ nach vorn gestellt. An Rückblicken habe die PDS ebensowenig Interesse wie die CDU, sagt Schwabe. Die SPD, seine Partei, sei zu unfähig und schwach.

„Ich bin nicht bereit, die ganzen 40 Jahre alleine zu tragen“, sagt Gerd Böttger, der verhinderte PDS-OB, ein sympathischer Pfeifenraucher. Als Ex-Kreissekretär der Nationalen Front verfügt er über Herrschaftswissen, das heute hohen Wert hat. „Die Blockflöten“, sagt er, „kenne ich alle.“ Man duzt sich in der Stadtverordnetenversammlung, spielt jetzt Demokratie. Und wenn grundsätzlich gestritten wird, sei, so Böttger, auch oft „viel Kabarett dabei“.

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