Zahme Ritter gegen das Böse
Werden die Balkan-Kriegsverbrecher bestraft?
Das Material türmt sich, doch die Ermittler sind noch machtlos
1994
von Tom Schimmeck
Es geht um die Würde des Menschen”, sagt Richter
Antonio Cassese. An der Wand gegenüber seinem Schreibtisch hängen
Fotos vom Tatort, die er aus dem heimatlichen Florenz mitgebracht hat:
Bilder von Opfern aus Bosnien – Menschen mit hartem, gehetztem Blick. Damit
er nie vergißt, daß das hier kein Witz ist.
Sein Job war noch nie da: Cassese ist Vorsitzender des UN-Tribunals
im holländischen Den Haag, er soll die im zerfallenden Ex-Jugoslawien
seit 1991 begangenen Kriegsverbrechen verfolgen. Terror ist ihm vertraut.
Als Menschenrechtsexperte hat er Gefängnisse, Anstalten und Lager
kennengelernt. Schon weil “Rechtsprofessoren normalerweise überhaupt
nicht nützlich sind”, reizt Cassese die so aussichtslos erscheinende
Aufgabe, im Balkan-Morast etwas Gerechtigkeit zu schaffen. Ist das nicht
eine Sisyphusarbeit, in einem politischen Minenfeld? Da treffe es sich
gut, scherzt er, daß er im Innersten kein Italiener sei – “eher Preuße
mit einer calvinistischen Ader”.
Seine Truppe kommt aus aller Welt: Ein chinesischer Greis, eine couragierte
schwarze Amerikanerin, die Ex-Justizministerin von Costa Rica, ein Oberrichter
aus Nigeria. Und alle, bis zu der jungen Polizistin unten an der Drehtür,
hoffen, hier bald Gutes tun zu können.
“Vor dem Krieg lebten in der Region Banja
Luka etwa 1,3 Millionen Menschen, darunter 356000 Moslems und 180000 Kroaten.
Heute wird die muslimische Bevölkerung auf 40000 - 50000 geschätzt,
die Kroaten auf 25000 - 30000. Nur zwei der ursprünglich 200 Moscheen
wurden nicht zerstört, von den 220 Imamen der Region sind nur 14 verblieben.”
UNHCR-Bericht, Juni 1994
Das Hohe Gericht ist im Gebäude eines Haager Versicherungskonzerns
untergekommen – ein Provisorium, das wohl Bestand haben wird. An der Glaswand,
die diese Keimzelle der Weltgerechtigkeit von Lebens- und Rentenversicherern
trennt, klebt, leicht verschrumpelt, das UN-Symbol. Dahinter ragt eine
schlaffe blaue Fahne auf.
Die Motive sind edel, Taten stehen noch aus. Seit Februar ist eine Prozeßordnung
verabschiedet, seit April auch das Reglement für die Inhaftierung
der Verdächtigen. Das erste Budget des Tribunals, karge elf Millionen
Mark für 1994, wurde erst im April bewilligt – 14 Monate nach Schaffung
des Organs. Es gibt noch keinen Verhandlungssaal und schon keinen Chefankläger
mehr: Der nach viel Gezerre im UN-Sicherheitsrat ernannte Ramon Escobar
Salom fand es reizvoller, Innenminister von Venezuela zu werden. Seit Februar
wartet man auf eine Neuberufung.
Der Vizeankläger, ein Australier, beteuert, alle Vollmachten zu
haben. 25 Leute – Anwälte, Ermittler und anderes Personal – arbeiten
für ihn, Anfang Juli sollen es 44 sein. Ein Gefängnis (24 Zellen)
ist im Bau. “Die Richter sind bereit”, verkündet der Sprecher des
Tribunals. Doch zunächst können sie spazieren gehen: Zum Ende
des Sommers könnten die ersten Untersuchungen, frühestens im
September die ersten Anklagen fertig sein. Mit Glück beginnt um Weihnachten
das erste Verfahren, vielleicht auch erst im nächsten Jahr.
Oder auch nie. So enorm die Erwartungen sind, so bescheiden ist die
Macht des Tribunals. Anders als die Vorgänger in Nürnberg (1945)
und Tokio (1946) ist dies kein Gericht von Siegern, die am Ort der Tat
ihr Recht durchsetzen können. Es hat keine Polizisten und keine Truppen,
um Verdächtige vorzuführen. Es darf nicht in Abwesenheit verhandeln.
Es kann auch nicht, wie die Vorgänger-Tribunale, pauschal “Verbrechen
gegen den Frieden” anklagen.
Bis zu welcher Etage werden die Ermittler vordringen können? Dem Wärter
X und dem Milizionär Y im Lager Z, wo es viele Opfer und Zeugen gab,
eine Vergewaltigung und einen Mord nachzuweisen, wird nicht allzu schwer
fallen. Doch was hat der Lagerkommandant, was die militärische Führung
befohlen, wieviel geht auf das Konto der Mächtigen in Belgrad, Zagreb
oder Sarajevo?
Je hochkarätiger der Täter, desto schwerer fällt der
Beweis. Die Ermittler hoffen, sich in der Hierarchie hochhangeln zu können,
sobald Angeklagte anfangen, über die Befehle ihrer Vorgesetzten auszusagen.
Fest steht: Dieser Krieg ist, an allen Genfer und sonstigen Konventionen
gemessen, ein besonders schmutziger. 3,9 Millionen Menschen sind auf der
Flucht, mindestens 85 Prozent der rund 200 000 Toten Zivilisten. “Ethnische
Säuberungen” werden von Banden und Spezialeinheiten exekutiert, ein
Gemisch aus Soldaten, Söldnern, Ganoven und Glücksrittern. Die
Oberen stellen sie gern als unkontrollierbar hin, vernebeln so ihre Verantwortung.
Doch hinter dem grausigen Treiben steckt System. “Vergewaltigungen haben
organisiert stattgefunden”, sagt Marcia McCormick, eine junge Juristin
aus Iowa, die am Internationalen Menschenrechtsinstitut in Chicago tausende
von Aussagen gesichtet hat, “wir haben Hinweise, daß der Befehl von
ziemlich weit oben kam.”
Marcia McCormick ist es gelungen, Strukturen aufzuzeigen: Zusammenhänge
zwischen Vergewaltigungen, Einschüchterungskampagnen und militärischen
Attacken. Zugleich sei die Arbeit “verstörend und irgendwie surreal”,
findet sie. Ihre Kollegin Penny Venetis hatte im ersten Monat jede Nacht
Alpträume. Die New Yorker Anwältin, für Lager und Folter
zuständig, sitzt in einer fensterlosen Kammer, vollgestopft mit Greuel-Berichten
und Karten, auf denen Tatorte mit Nadeln markiert sind. Auf manche Foltermethoden,
sagt sie, “wäre ich in meinen wildesten Träumen nicht gekommen”.
Im vierten Stock eines Wolkenkratzers in Downtown Chicago erforschen
sie Kriegsverbrechen auf dem Balkan. Ihr Wissen kommt aus dem “war room”
nebenan, wo Freiwillige sieben Tage die Woche, zwölf Stunden pro Tag,
den Horror aus über 60 000 Berichten auf die Computer-Festplatte gefüttert
haben. Etliche Stunden Videomaterial wurden auf CD-ROM verarbeitet, um,
Bild für Bild, mögliche Täter aufzuspüren zu können.
Die Juristen versuchen, in dem Wahnsinn Methode auszumachen. William B.
Schiller hat die Belagerung Sarajevos durchleuchtet. Seine Studie füllt
mehrere Telefonbuch-dicke Bände, allein die Chronologie umfaßt
rund 1700 Seiten. Dazu hat er endlose Tabellen angefertigt – Einschläge
nach Gebiet, Häufigkeit, politischer Lage. Bis zu 3777 serbische Granaten
gingen täglich auf Sarajevo nieder. Schiller kann nachweisen, daß
sie nach politischer Konjunktur flogen, oft als mörderische Begleitmusik
zu Friedensgesprächen.
Wer hat das befohlen, belohnt oder zumindest toleriert? Reicht die Spur
bis nach Belgrad, zu Restjugoslawiens Herrscher Slobodan Milosevic, den
etwa die USA gern auf der Anklagebank sähe? Reicht das Beweismaterial,
die Architekten Groß-Serbiens, die Anstifter der “ethnischen Säuberung”
zu verurteilen?
Eine gute Beweislage zu schaffen, sagen die Experten, sei eine Frage
des Aufwands. Bislang haben Menschenrechts- und Hilfsorganisationen das
Gros des Materials gesammelt, auch von Kriegsparteien – meist, um Untaten
der Gegenseite zu belegen. Einige Staaten haben Flüchtlinge intensiv
befragt und die Ergebnisse nach Chicago geschickt.
Von der UN bekam die Datenbank ihrer Expertenkommmission keinen Pfennig.
Die Exhumierung von Massengräbern scheiterte, weil die UN-Bürokratie
so schnell keine Leichensäcke und Kühllaster beschaffen konnte
(“Wenn wir das Verfahren beschleunigen, dauert es drei Wochen”, hieß
es aus New York). Dem UN-Sonderbeauftragten zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen,
Tadeusz Mazowiecki, verweigerten Blauhelme Geleitschutz. Jede Morduntersuchung
in den USA, spottet UN-Ermittler William Fenrick, bekäme mehr Mittel
als alle Kriegsverbrecher-Recherchen.
Frits Kalshoven, Ex-Chef der Expertenkomission, warf im September 1993
deprimiert das Handtuch, kritisierte Frankreich und Großbritannien
als Haupt-Bremser der Ermittlungen – Staaten, die in Ex-Jugoslawien starke
Blauhelm-Kontingente haben (Karlshovens Vize, Torkel Opsahl, erlag kurz
darauf einem Herzinfarkt). Auch die US-Regierung kam unter Beschuß,
besonders heftig vom Chef ihrer Jugoslawien-Abteilung im Außenministerium,
der ein bitteres Papier wider die Kriegsdiplomatie schrieb. Titel: “Der
Nadelstreifen-Zugang zum Genozid”.
Ermittler versus Vermittler: Berichte und Tribunale, sagen die Strategen,
dienten der Befriedung des Gewissens. Wenn es ernst werde am Verhandlungstisch,
mache zuviel Moral den Deal nur komplizierter. Ihre Unterhändler,
die sich mit den Kriegern oft in Genf treffen, betreiben “Realpolitik”
– ein deutsches Wort, das auch im Englischen Fuß gefaßt hat.
Die Menschenrechtler verabscheuen die Unterhändler, die Unterhändler
belächeln die Menschenrechtler. Moral contra Realpolitik – das ist
der kleine Balkan-Krieg der internationalen Diplomatie.
“Am 23. Oktober griffen HVO-Kräfte (bosnische
Kroaten; Red.) das Moslem-Dorf Stupni Do an… danach sollen die kroatischen
Kräfte örtliche Moslems ermordet und verstümmelt haben.
HVO-Kräfte, die Stupni Do umzingelt hatten, verweigerten den in der
Gegend stationierten UNPROFOR-Kräftennach dem Massaker drei Tage lang
den Zutritt. Als sie endlich das Dorf erreichten, fanden sie die Leichen
von 25 Moslems, viele verkohlt und verstümmelt.”
Bericht Amnesty International, Januar 1994
Das Abwarten der Realpolitiker, meint Jeri Laber von der Menschenrechtsorganisation
Helsinki Watch, habe ein “gefährliches Signal” gesetzt: “Wenn bosnische
Serben Muslime und Kroaten ,säubern’ können und dafür in
Genf belohnt werden, warum sollen kroatische und musliminische Kräfte
nicht das gleiche tun? Opfer werden oft selbst zu Tätern, wenn sie
eine Chance bekommen.”
Die Führer Ex-Jugoslawiens kontrollierten das Geschehen, stellt
Mazowiecki klar: Sie seien voll verantwortlich. Es wäre schon ein
Erfolg, argumentieren Menschenrechtler, wenn das Tribunal notorische Krieger
per internationalem Haftbefehl suchen ließe: Sie wären dann
nicht mehr hoffähig für Lord Owen und seine Landkartenzeichner.
Um ihre Verhaftung zu erzwingen, könnte der Sicherheitsrat gar
neue Sanktionen verhängen. Doch wer mag sich vorstellen, daß
– zum Beispiel – Milosevic seine Haut für ein paar Fässer Benzin
zu Markte trägt? Belgrads Regierung lehnt die Auslieferung von Kriegsverbrechern
ab. Ihr neuestes Argument: Wir verfolgen solche Taten selbst. Im Mai wurde
in Serbien erstmals ein Serbe, Dusan Vuckovic, als Kriegsverbrecher
angeklagt. Laut Anklage soll er im Juni 1992 in einem bosnischen Dorf 16
Moslems getötet und 20 verwundet, einem Gefangenen ein Ohr abgeschnitten
und eine Frau vergewaltigt haben. “Mein Klient hat in Bosnien für
die offiziell proklamierte serbische Sache gekämpft”, sagt Vuckovics
Anwalt, “wenn er dabei Menschen umgebracht hat, geschah es in Namen dieser
Sache.”
So wird das Tribunal vorerst nur auf Täter Zugriff haben, die vom
Gegner ausgeliefert werden oder im Ausland abgetaucht sind. In Dänemark
und Schweden wird ermittelt, in Deutschland sitzt seit Februar der Serbe
Dusko Tadic in Haft. Er soll als Krieger der “Serbischen Partei” Verbrechen
begangen haben. Ex-Häftlinge des berüchtigten Lagers Omarska,
in einer Erzgrube bei Prijedor eingerichtet, hatten ihn wiedererkannt.
In dem Lager sollen cirka 1500 Menschen, überwiegend Moslems, ermordet
worden sein.
Die Gesellschaft für bedrohte Völker schätzt, daß
sich an die 150 Kriegsverbrecher in Deutschland aufhalten. Die Bundesanwaltschaft
ermittelt derzeit gegen 49 namentlich bekannte und einige unbekannte Täter.
Sie könnte die Verfahren nach Den Haag abgeben, wenn das Tribunal
voll arbeitsfähig ist.
Die Richter sind erwartungsvoll. “Ich glaube fest daran, daß es echte
Verfahren geben wird”, meint die Amerikanerin Gabrielle Kirk McDonald,
Vorsitzende einer der beiden Kammern. “Das wird faszinierend, den ersten
Verdächtigen zu sehen, zu hören, wie er sich verteidigt”, freut
sich auch der Nigerianer Adolphus Karibi-Whyte, ein Richter, der in der
Geschichte seines Landes nur bis zu Biafra zurückblättern muß,
um Paralellen zu finden. Umso mehr glaubt er an eine “Universalität
der Gerechtigkeit”. Und ist überzeugt: “Auch in Ex-Jugoslawien wissen
sie, daß ethnische Säuberungen und Massenvergewaltigungen nicht
gut und richtig sind.” Der Vorsitzende Cassese verspürt ebenfalls
bereits eine “intellektuelle Neugier” auf die ersten Verdächtigen.
Wird das Tribunal zum Papiertiger, der Lächerlichkeit preisgegeben?
Wie die Kollegen vom Internationalen Gerichtshof, die Serbien schon am
8. April 1993 verurteilt haben, “sofort alles in seiner Macht Stehende
zu tun, um das Verbrechen des Genozids zu verhindern”?
Am Ende könnte aus dem Tribunal eine Art Wahrheitskomission werden:
Dann weiß man, wer es war. Und das war’s.
©
Schimmeck |