Was schert uns die Welt?Beim Senioren-Tanztee im lauschigen Kurort Bad Kohlgrub prallen Schlagzeilen von heute auf verklärte Erinnerungen an die gute alte Zeitvon Tom Schimmeck Gleich mit dem zweiten Lied hat Detlef den Nerv getroffen. Er orgelt "Du schwarzer Zigeuner" und schon erheben sich die ersten Paare, um auf den Fliesen des Kurpark-Restaurants sacht ihre Runden zu drehen. Detlef macht das hier dreimal die Woche, er weiß, was zieht: Langsame, liebliche Evergreens. So ein Senioren-Tanztee in einem oberbayerischen Kurort ist nicht unbedingt das klassiche Forum, die Lage der Nation zu erörtern. "Politik, ach nee, da wird bloß geschwindelt", meint Hans-Joachim, bald 80, ein großschädeliges Mannsbild, dessen Erscheinung gut gefestigte Ansichten vermuten lassen. "Uns interessieren nur die Berge, die haben wir alle abgeklappert." "Die Probleme haben wir hinter uns", hofft auch Gattin Ingrid, 74, eine adrette Dame im chicen Leinenkleid. Deswegen ist man ja hier, in Bad Kohlgrub: Um es sich gut gehen zu lassen, die Natur zu genießen – und in diese Wannen voll mit dickem, schwarzen Moorbrei zu steigen, der den Schmerz aus den Gliedern zaubern soll. Bad Kohlgrub ist die heile Welt. Ein gediegenes Kurdorf, das Anstand und Wohlstand verströmt. Alles ist gepflegt hier. Die Geranienmeere an den Balkonbrüstungen, die ordentlichen Gräberreihen vor der Kirche. Obwohl nun auch hier, wie Herr Zellner, der Pächter des Kurpark-Restaurants berichtet, "die Gesundheitsreform voll durchschlägt". Es ist ein Refugium, wo man von der Jetzt-Zeit kaum behelligt wird, wo man träumen kann. Die Dorflinde rauscht, eine Schafherde mit Glöckchen klingelt den Hang entlang, ab und an pfeift die Eisenbahn vorbei. Und die Madonnen schweigen. Bad Kohlgrub, ein Ort, der nicht widerspricht, der die Verwirrung des Alltags auf ein Minimum reduziert. Was nur ein Risiko in sich birgt: Daß so gar keine rettende Ablenkung parat ist, wenn man beim Blick auf die Berge vom Träumen plötzlich ins Bilanzieren gerät. Hermann, 71 und Käthe, 77, aus Bruchhausen-Vilsen sind zum achten Mal hier. Und sie genießen es. Ein fröhliches Paar. Käthe tanzt gern und Hermann macht mit, ohne Jammern. Auch heute wieder. Mit dem Auto sind sie hierher gefahren, abwechselnd, "und gleich zackzack zum Tanz" gegangen. Das ist ihre Routine. Sie haben sich 1947 an einem Sonntagnachmittag beim Tanzen kennengelernt. Politik? Naja. Er guckt manchmal "die Tagesschau und auch 'ne Talkshow". Aber was schert ihn die Welt? Zusammen reicht die Rente, um ein drei bis vier Mal im Jahr wegzukommen aus "unserem Nest" – ins Rheinland, hierher zur Kur oder nach Gran Canaria. "Über Frauen", glaubt Hermann, "kann man sich besser unterhalten." Als Detlef "Tanze mit mir in den Morgen..." spielt, stellt sie ihr Wasser ab und er seine gelbe Brause, um wieder dabei zu sein. Oh seliges Seniorentum. Worüber sollen sich Waltraud und Hans, beide 67, zwei bodenständige Bäckersleut aus Baden-Württemberg, noch aufregen? Er hat 42 Jahre gearbeitet, meistens 12 Stunden am Tag. Sie ist 30 Jahre lang um drei Uhr morgens aufgestanden. Als sie 40 waren, haben sie Rumba und Chachacha in einem Tanzkurs nachgeholt. Das wird jetzt praktiziert. "Deutschland ist in Ordnung", sagt Waltraud, "weil es uns noch nie so gut gegangen ist, jeder zu essen hat und keiner frieren muß." Und doch ist dieses Idyll bei Kerzenlicht, Kaffee und Kuchen nicht makellos. Beim Rundgang von Tisch zu Tisch wird auch Unruhe spürbar, wie ein anschwellendes Rauschen. Da kollidieren frische Fernsehbilder mit Gewißheiten aus einer Zeit, in der die Senioren geprägt worden sind. Uns geht es gut bis gold, sagen sie und scheinen dabei fast ein schlechtes Gewissen zu haben, aber was wird aus den Enkeln werden? "Die Jüngeren", sagt Hans zu Waltraud, "können nicht mehr so einfach zur Kur fahren. Die müssen zuzahlen. Sie haben Angst, im Betrieb auf eine Liste zu kommen. Und wenn das nächste Mal welche entlassen werden, sind die als erste dran, weil sie nicht ganz fit sind." Woran kann man sich noch festhalten? "Am besten es bleibt so, wie's ist", meint Hubert, ein griesgrämiger Mann, "weil sonst wird's ja bloß schlechter." Auch Hans-Joachim, der eben noch über die Berge schwärmte, setzt plötzlich zu einem Parforceritt durch die Schlagzeilenlandschaft an, doziert über Jelzin, den DAX, den Euro und die Amerikaner, und daß "die Serben überall Krach machen". Deutschland, befindet er, sei "eine Katastrophe". Warum? "Na wegen des Drecks", sekundiert Ingrid, "in jeglicher Hinsicht." Also Schluß mit der Gemütlichkeit. Das andere Pärchen am Tisch, Anita, 65, und Gustl, 67, läßt nun sogar einen der geliebten Walzer aus, um mitzureden. "Es ist die Staatsverschuldung", sagt Gustl, "und die Verfremdung – in 50 Jahren gibt's kein Deutschland mehr". Schon deshalb, weil "hier alles veramerikanisiert." "Ja", steigt die braungebrannte Anita ein, "unser armes Deutschland. Ich bin für Fremdsprachen, aber wenn hier ,Happy Birthday' gesungen wird, krieg' ich eine Wut." Und dann läßt sie noch einen Tanz sausen, um sich als Grünen-Fan zu outen – "weil ja sonst keiner wagt, was zu sagen". "Zum Glück wird in Bayern die Tradition noch gepflegt", meint Gustl und fixiert dabei die Holzschnitzereien über dem Tresen: Szenen mühsamer Feldarbeit, ein Pferdegespann, das schwere Baumstämme zieht. Aber da fällt ihm ein, daß die Pfarrerin heute morgen im Gottesdienst das Wort "Power" benutzt hat und schon kommen ihm Zweifel, wie fest die Bastion Bayern noch steht. "Naja", brummt Gustl, "die paar Jahre bringen wir noch rum." Bei den Ängstlichen und den Mißmutigen braucht es nur Minuten, bis schaurige Nostalgien wach werden, bis Grundüberzeugungen hervorkommen, die alle Aufklärung schadlos überstanden haben. Da ist zum Beispiel Gertrud, 77, die bekennende Freundin der schönen Künste, eine eher schüchterne Dame mit Hut und einem starken Faible für Wagner. Sie ist heute hergekommen, um sich von der Musik "ein bißchen aufheitern zu lassen". Im Nu aber beginnt sie ausführlich von der "Volksgemeinschaft" im verflossenen Sudetenland zu schwärmen, vom Turnverein und dem Bund Deutscher Mädchen, mit dem sie so schöne Ferien verbracht hat. "Das waren andere Werte damals, eine andere Welt. Das war alles so schön. Heute sind alle Egoisten." Nach dem Krieg war sie Grundschullehrerin, hat auch gleich im Juli 1945 eine Stellung in Bayern bekommen, weil sie nicht "in der Partei gewesen ist". "Nein", sagt sie, "von den Schattenseiten haben wir nichts gewußt." Aber "die Tschechen", die seien "sehr gehässig und falsch". Am Nebentisch sitzen Lisbeth und Walter, beide 74. Sie wirkt omihaft-freundlich, war früher bei der Sparkasse. Er, brummig und schwerhörig, kommt aus der Metallbranche. Seine wichtigste Lebenserfahrung waren "drei Jahre Rußland und vier Verwundungen". Walter macht sofort sein Faß auf: "Jeden, der kommt, läßt man bei uns rein. Das ist einfach zuviel. Die Türken führen sich unmöglich auf. Und die Moslems, das ist die eigentliche Gefahr." "Und die Arbeitslosen und alle", meint sie, "das gibt doch böses Blut. Aber man darf ja nix sagen, sonst ist man gleich ausländerfeindlich." Geübt werfen sie sich nun die Bälle zu: Er (empört): "Die Juden zocken nochmal die Banken ab." Sie (schnippisch): "Daß die uns das immer noch auf's Butterbrot schmieren." Er (erläuternd): "Bei uns war ein KZ in der Nähe. Aber das Malheur mit den Juden hat man nicht so mitgekriegt." "Das Malheur mit den Juden" - da kann auch Detlefs süßliche Musk nichts mehr retten. An diesem Nachmittag im Kurpark-Restaurant fallen nur zwei Namen aus der Nachkriegszeit. Die Konservativen und die Verbitterten halten Franz-Josef Strauß in Ehren. Gertrud etwa hat ihn "sehr geliebt, die offene Art und alles." Für alle anderen war Helmut Schmidt die letzte Respektsperson, der letzte Kanzler, der eine stattliche Figur gemacht und ihnen Vertrauen eingeflößt hat. Und die Gegenwart? Draußen auf der Hauptstraße dominieren die Plakate der Republikaner und des Bundes Freier Bürger. Zwischen den Verlautbarungen von Trachtenverein, Schützengesellschaft und Modellbahn-Club hängt ein lächelnder Stoiber. "Politik ist ein Kasperlstück", raunt die knorrige Bäckersfrau Waltraud und ihr hartes Gesicht wird ganz schelmisch dabei: "Ich weiß nicht, ob der Alte nochmal drankommt." Es könnte "schon einen Wechsel geben", findet auch der fröhliche Hermann. Seine Käthe nickt. Sie hat "den Kohl von Anfang an nicht gemocht." Wie es auch kommen mag, Bad Kohlgrub wird unberührt bleiben. Detlef wird weiterorgeln, nachmittags schön langsam, abends etwas flotter. Und wenn die Paare nach Hause gehen, werden sie die hübschen Sprüche an den Hauswänden lesen, die älter sind als alle Wahlplakate. Am liebsten wohl diesen: "Die Alten ehre stets!
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