Die Insel der Gefangenen
Jahrhundertelang war
Robben Island, am Südzipfel Afrikas gelegen, ein Ort der Grauens und
der Verbannung. Die weißen Herren luden Kranke und Verrückte,
unglückliche Prinzen und meuternde Seeleute auf dem Eiland ab. Alle
berühmten Freiheitskämpfer Südafrikas haben hier Jahre verbracht.
Doch bald wird die verwunschene Insel von ihrem Fluch befreit. In einem
neuen Südafrika wird sie ein hübsches Ausflugsziel sein, Mahnmal
für eine lange Epoche voller Leid
1991
von Tom Schimmeck
Möwen kreischen durch das klamme Grau eines
nebligen Morgens, als wir mit der "Dias" im Hafen vonKapstadt
ablegen. Die Wärter, die an der Laderampe stehen, schauen grimmig
unter der schlappen Krempe ihrer braunen Stoffhüte hervor. Vorbei
geht es an ankernden Frachtern, die im bewegten Wasser der ausladenden
Bucht träge schaukeln. Hinter uns der Tafelberg, vor uns der Atlantik,
neben uns auf den Holzbänken des Schiffes die schnatternden Omis eines
Kapstädter Damenclubs, die auf der nun schon in Sicht kommmenden Insel
nur ein paar Muscheln sammeln wollen.
"Welcome" steht auf dem Portal am Hafen, und in der Buren-Sprache
Afrikaans noch einmal "Welkom". Auch Unteroffizier Kruger und
Major Marais, eigens zur Begrüßung des seltenen Journalistenbesuchs
ans Kai gekommen, haben einen artigen Willkommensgruß auf den Lippen.
Und während die restlichen Schiffspassagiere durch das große
Röntgengerät schreiten, werden wir in einen Kleinbus verfrachtet,
auf holprigen Wegen dem Begrüßungstrunkentgegen. Als wär's
ein Ferienparadies. Nur schade, daß man uns nicht traut. Die Herren
fahren große Umwege, damit wir nur ja keinen Blick auf den großen
Gefängnisbau werfen können. "Das ist kein Ort des Leidens",
sagt Kruger. Das will man uns beweisen.
Indres Naidoo, vor 28 Jahren als "Terrorist" nach Robben Island
verbracht, ist mit demselben Schiff gekommen. Doch bei seiner Ankunft standen
lange Reihen von Buren mit Flinten an der Pier und brüllten: "Dis
die Eiland. Hier julle gaan vrek!" ("Das ist die Insel, hier
werdet ihr verrecken.") Auf dem Weg zum Gefängnis stolperten
die Häftlinge durch ein Spalier von Wärtern, die sie beschimpften
und mit Knüppeln und Gummischläuchen prügelten. Wer englisch
redete, galt schon als aufsässig. Das sei die Sprache der "Kaffirfreunde",
fanden die Wärter. Bald saßen die "Politischen" im
Hof beim Steineklopfen - kahlrasiert und an den Füssen zusammengekettet.
Robben Island, die Robbeninsel, der große Knast im Meer. Viele
tausend Unglückliche haben vor uns die 10-Kilometer Reise von Kapstadt
zu diesem verfluchten Fleck Erde gemacht: Meuternde Seefahrer, unheilbar
Kranke, geistig Verwirrte. Zuvörderst aber und bis zum heutigen Tag
alle Gegner der weißen Vorherrschaft an der Südspitze Afrikas
- stolze Häuptlinge, rebellische Sklaven. Berühmt der Gefangene
Nummer 466/64: Nelson Mandela, Held des schwarzen Befreiungskampfes. Er
hat den Großteil seiner 28 Jahre währenden Haft in einer der
Einzel-Zellen des "Maximum Security Prison" von Robben Island
verbracht.
Nirgendwo bündelt sich die lange Leidensgeschichte Südafrikas
so wie auf diesem gut fünf Quadratkilometer großen Klotz Kalkstein,
umspült vom eiskalten Benguela- Strom, der direkt aus der Antarktis
kommt. Vor einem halben Jahrtausend gingen Portugiesen, die ums Kap der
guten Hoffnung segeln wollten, erstmals hier an Land. Schon bald darauf
kam europäischen Entdeckern die Idee, diese karge Insel, nur von Robben
und Pinguinen bevölkert, als Strafkolonie zu nutzen. Seither hat der
weiße Mann in diesem menschlichen Endlager seine Widersacher und
Problemfälle deponiert. Autshumayo, ein Khoi Khoi (Hottentot), den
weiße Historiker "Harry den Strandläufer" nannten,
war 1658 einer der ersten politischen Gefangenen der holländischen
Eroberer. Die Briten luden hier zweihundert Jahre später aufmüpfige
Häuptlinge vom Stamme der Xhosas ab, die ihnen bei der Ausdehnung
der Kap-Kolonie in die Quere gekommen waren. Kapitäne entledigten
sich auf dem nierenförmigen Eiland am Südzipfel Afrikas unbequemer
Besatzungsmitglieder. Selbst der König von Madura, einer fernen Insel
nördlich von Java, wurden einst dorthin verbannt.
Die Einwanderer am Kap, neben Holländern und Briten auch Deutsche,
Polen, Flamen und Franzosen, waren meist düstere, wenig gottesfürchtige
Charaktere. Wer sich daneben benahm wurde grausam hart bestraft. Schon
ein Soldat, der mehr zu essen verlangte, konnte zum Tode verurteilt werden,
oder zu 25 Jahren Zwangsarbeit in den Steinbrüchen der Insel. Selbst
der erste Superintendent Robben Islands war zur Strafe dort. Er hatte die
Ehre der Frauen am Kap "blasphemisch verletzt", war daraufhin
zum gemeinen Soldaten degradiert und auf die Insel gebracht worden. Kein
Jahr später wurde er von dort wegen Ungehorsams und fortgesetzter
Trunkenheit wieder entfernt. Ein Begleiter des berühmten Captain Cook
notierte 1775: "Die Insel ist ein dürrer und sandiger Ort, wo
viele Mörder und Schurken festgehalten werden."
*
Auf der südöstlichen Ecke, ein bißchen windgeschützt,
liegt ein Dorf mit Kirche, Schule, Postamt. Kinder spielen auf der Straße,
die zum Leuchtturm hinaufführt. Doch die Normalität ist trügerisch:
Im Krämerladen tragen alle Bediensteten die hellbraune Uniform der
Gefängniswärter. Gefangene, im dunkelgrünen Arbeitsanzug,
reparieren Dächer, streichen Zäune und gießen die Tomaten
im Gewächshaus, bewacht von einem Aufseher mit Schlagstock. Ihre Haare
sind kurzgeschoren, ihre Gesicher leer. Andere schneiden den Rasen vor
dem großen, weißgetünchten Gästehaus. Hierhin zieht
sich Südafrikas Regierung manchmal zurück, wenn es wirklich diskret
zugehen soll. Fotografieren verboten.
Versteckt im Gesträuch der Insel verrotten drei riesige Kanonen,
je 42 Tonnen schwer, aus dem zweiten Weltkrieg. Die Munitionsdepots daneben
sind mit Kakteen getarnt. Zwischen Felsen am Strand liegt das zerbrochene
Wrack der Fung Chung II, eines Frischtrawlers aus Taiwan. Der Sturm hat
unzählige Schiffe zur Insel getrieben oder in ihrer Umgebung versenkt.
Und auch die Autos sind fahrender Schrott, oft fehlen sogar die Türen.
Für die Staatsdiener und ihre Familien auf der Insel gibt es keinen
TÜV. Nur Bremse und eine Lampe sind zwingend vorgeschrieben.
Auf dem nur spärlich mit Rasen bewachsenen Rugby-Feld tobt sich
die Wärter-Jugend mit einer Mannschaft Kapstädter Polizisten
aus, die mit der Mittagsfähre gekommen sind. Die Polizisten, wohl
noch leicht seekrank, verlieren. "Ich habe hier mal einen Geist getroffen",
behauptet Barry Kruger, als wir einer Kirche vorbeikommen, die im 1841
von Häftlingen erbaut wurde. "Nach Mitternacht ging ich hier
lang und hatte plötzlich einen Windhauch im Nacken. Dann habe ich
etwas Weißes gesehen, so wie Nebel, und einen Weltrekord im Sprinten
hingelegt."
Gemeinhin wird der dörfliche Friede nicht durch übersinnliche
Erscheinungen, durch Schübe von Angst, Zweifeln, gar Schuldgefühlen
getrübt. Ein wohlgenährter Strauß schreitet erhaben über
die Hauptstraße und pickt ab und zu nach etwas eßbarem. Ein
Wärter knattert mit seinem Moped vorbei. Major Marais lobt die hohe
Lebensqualität der Insel. Drei Kneipen haben die 250 Wärter hier,
getrennt nach Dienstrang. Am schönsten liegt der Offiziersclub, direkt
am Wasser mit Blick auf Kapstadt und die Berge. "Auch die Verbrechensrate
ist extrem niedrig", schwärmen unsere Begleiter, ihre Komik selbst
nicht bemerkend. In einem gedrungenen Steinbau, dem ehemaligen Leichenschauhaus,
ist die Filiale der "Trust Bank" untergebracht, wohl, so meinen
unsere Oberwärter, "die sicherste Bank der Welt."
*
Einige wollen in den berüchtigten Fleck Erde nun Millionen investieren,
um daraus ein Touristenparadies zu machen. "Solange politische Gefangene
dort festgehalten wurden, war der Steuerzahler ja bereit, die Kosten zu
tragen", meint Nick Malherbe, Geschäftsmann am Kap, der in einem
Verein für die Schließung des Gefängnisses und die ™ffnung
der Insel streitet. "Doch für einen normalen Knast ist das viel
zu teuer." Tatsächlich hat die Regierung schon vor über
zehn Jahre einmal beschlossen, die kostspieliege Anstalt zur Verwahrung
von gut 1000 Häftlingen zu schließen. Doch Südafrikas Gefängnisse
sind so voll, daß Justizminister Kobie Coetsee von diesem Beschluß
vorerst nichts mehr hören möchte. Auch wenn der Fährbetrieb
und all das insulare Drum und Dran Unsummen verschlingen. Selbst Trinkwasser
muß vom Festland herübergebracht werden.
Doch spätestens, wenn die weiße Regierung die Macht abgibt,
wird das lange traurige Kapitel der Inselgeschichte wohl beendet sein.
Die Investoren können es kaum erwarten. Und auch Schatzsucher, bislang
durch strenge Sicherheitsvorkehrungen am Absuchen des Meeresgrundes in
der scharf bewachte Ein-Meilen-Zone gehindert, freuen sich auf fette Beute.
Etliche Wracks gilt es zu finden. 1694 etwa sank die holländische
Dageraad, voll beladen mit Gold.
"Es ist eigentlich eine schöne Insel," meint Walter Sisulu,
langjähriger Gefährte von Nelson Mandela auf Robben Island. Der
alte Generalsekretär sitzt in seinem Büro im Hauptquartier des
African National Congress in Johannesburg und erinnert sich, wie er in
Ketten in die Zelle geschafft wurde. Er redet von den Blasen, die sie sich
im Steinbruch holten und an die vielen Hungerstreiks, mit denen jede kleine
Verbesserung erkämpft werden mußte. Der freundliche, weißhaarige
Mann erzählt aber auch von der "Universität" Robben
Island. Fast alle "Politischen" haben auf der Insel Fernstudien
betrieben und etliche Schul- und Hochschulabschlüsse gemacht. Ständig
wurde in den Zellen Schulung betrieben. Selbst burische Wärter bekamen
Unterricht von den sogenannten "Terroristen", in Mathematik und
sogar in ihrer eigenen Sprache, Afrikaans, die manche von ihnen nicht lesen
und schreiben konnten. "So haben die begriffen, daß wir Menschen
sind", sagt der Veteran. "In den ersten Jahren stellten sie wortlos
das Essen in die Ecke und hielten uns mit Gewehren in Schach, wie Gorillas."
Vom ersten Gespräch mit einem argwöhnischen Gefängniswärter
bis zu Verhandlungen mit der weißen Regierung über die Aufgabe
ihrer Vorherrschaft, für Sisulu ist das ein stetiger und logisch zwingender
Prozeß. "Wir haben nie die Zuversicht verloren", lächelt
Sisulu. "Was Weiße über Schwarze und Schwarze über
Weiße denken, ist eine Frage des Lernens. Das geht in vielen kleinen
Schritten und wird noch viel Zeit brauchen."
*Die Schwarzen Südafrikas nennen den Ort schlicht "the island",
meist mit ehrfürchtigem Unterton. Denn die "Islanders" gelten
als die dizipliniertesten, entschlossensten und brilliantesten Kämpfer
gegen das Apartheid-Regime, eine Elite-Truppe mit viel politischem Gewicht.
"Wer von dort kommt, wird mit großem Respekt betrachtet",
meint Jeremy, ein junger Betreuer im Kapstädter Cowley House. Jeremy
ist selbst einmal den demütigenden Weg von der Fähre zum Gefängnis
gegangen, den sie den "langen Marsch" nennen. "Es hat psychologisch
eine ziemliche Wirkung auf dich. Die Aufseher geben kurze, scharfe Kommandos,
die Dir Angst machen - Steh auf, stell dich hin, Marsch, Marsch. Sie machen
dir von Anfang an klar, daß du ganz allein und in ihren Händen
bist."
Im Cowley House betreuen der Ex-Häftling Jeremy und andere seit
Jahren Angehörige von Gefangenen, die oft tagelange Reisen machen,
um einen kurzen Knastbesuch zu absolvieren. Immer häufiger kümmern
sie sich auch entlassene Häftlinge. Für viele, beobachtet der
Betreuer, fangen die Probleme nach Jahren der Insel-Einsamkeit erst an:
Keine Jobs, kein Platz zum Leben, zerrüttete Familien. Die Insulaner
sind meist zwar große Politstrategen, dem rauhen Alltag in den Schwarzen-Ghettos
jedoch kaum noch gewachsen. Manche haben Angst davor, auch nur eine Straße
zu überqueren.
"Die Willkommens-Party dauert zwei, drei Tage. Dann ist es vorbei",
erinnert sich Patrick Matangana, der 18 Jahre auf Robben Island durchgemacht
hat. Vor vier Jahren ist er entlassen worden, doch er schläft noch
immer bei seinen Eltern auf dem Fußboden und schlägt sich leidlich
mit Gelegenheitsjobs durch. Seine größte Sehnsucht ist ein kleines
Häuschen - "ganz für mich allein".
Patrick ist noch keine 50, doch in seinen Augen hat sich sich eine tiefe
Müdigkeit eingenistet. Die Lebensgeschichte ist typisch für einen
ANC-Guerillero. Mit 17 zum ersten Mal verhaftet, weil er im Schwarzen-Ghetto
voller Wut mit Steinen auf die gepanzerten Mannschaftswagen der Polizei
gezielt hatte - "Ich hatte einfach die Schnauze voll." Wieder
in Freiheit ging es richtig los, mit organisierten Benzinbomben-Attacken
auf Polizeistationen. Patrick ging in den Untergrund, schlief mal da mal
dort, wie viel zornige Jugendliche, die gesucht wurden. "Das war eine
große Sache für mich", erzählt Patrick.
Im Gefängnis hatte er Chris Hani kennengelernt, heute einer der
ganz Großen des ANC. Eines Tages traf er den Kommandanten in einer
Pommesbude wieder: "Wir gehen jetzt weg, um richtig kämpfen zu
lernen", sagte Hani zu ihm. Noch am gleichen Tag fuhr Patrick mit
ein paar anderen mit dem Zug nach Johannesburg, danach mit einem Kombi
bis hinauf nach Zambia und Tansania, in die Trainingscamps des ANC. Er
jettete durch die weite Welt: Schießübungen in Algerien, Sprengstoffausbildung
in Ägypten, Strategie- und Guerilla-Training in Odessa und Moskau.
Dazu geheimdienstliche Unterweisung in der DDR und Spezialkurse für
Autofahren und Agentenenttarnung in Kuba.
Nach über fünf Jahren Ausbildung sollte sich der Super-Guerillero
Patrick via Zimbabwe, das damals noch Rhodesien hieß und von Weißen
regiert wurde, nach Südafrika einschleusen. Doch seine Einheit wurde
von der rhodesischen Armee hopsgenommen, er selbst schließlich nach
Pretoria ausgeliefert. Im Gefangenentransporter kehrte er in seine Heimat
zurück, ohne dort auch nur einen Schuß abgefeuert zu haben.
Mit Elektroschocks und "allem Dreck dieser Erde" wurde er gefoltert,
dann zu 18 Jahren Haft wegen Terrorismus verurteilt.
Am Neujahrstag 1970 kam er auf die Insel, traf zum ersten Mal Mandela
und ANC-Generalsekretär Walter Sisulu. Die zweigten ersteinmal etwas
zu essen für die dürren Neuankömmlinge ab. "Und wir
konnten mit ihnen alles besprechen, was wir nicht verstanden hatten."
Damals mußte man Bücher einschmuggeln und sich mit Rufen und
Klopfzeichen verständigen. Zu Essen gab es sauren Porridge mit braunem
Zucker. Weder die Wärter noch die anderen Gefangenen durften mit ihnen,
den "gefährlichen Menschen", sprechen. Im Steinbruch arbeiteten
sie ohne Schuhe und Pullover, in kurzen Hosen dem kalten Wind ausgesetzt.
"Die Zellen, die Wärter, die Krankenversorgung, das Fraß,
einfach alles war miserabel. Aber irgendwie ist die Insel zu meinem Zuhause
geworden", meint Patrick und kratzt sich nachdenklich im Nacken. "Es
war einfach klar, daß für lange Zeit alles vorbei ist, daß
ich dort vielleicht sterbe."
*
Im Staatsarchiv zu Kapstadt kann man in alten, in Leder gebundenen,
ein wenig moderig duftenden Folianten blättern, wo handschriftlich
alle vermeintlich Verrückten festgehalten sind, der auf die Insel
verbannt wurden. Jedes Schicksal eine Zeile: Briten, Buren, Zulus, auch
ein österreichischer Tierarzt und ein Deutscher namens August Eggers
findet sich dort. Er war 25 Jahre alt, als er in April 1900 auf die Insel
verschifft wurde, Seemann, evangelisch, als selbstmordgeneigt und gefährlich
eingestuft. Rasse: europäisch. Eingeliefert wegen: Melancholie.
Auch Leprakranke kamen im letzten Jahrhundert auf die Robben-Insel.
Sie mußten sich zuweilen mit den Gerippen ausgeweideten Wale begnügen,
die Fischer dort zurückgelassen hatten. Eine spezielle "Lepra-Polizei"
patroullierte auf der Insel und bewachte nachts die Strände, um die
Flucht mit selbstgebastelten Schiffen zu verhindern. Die Geschichte der
Insel ist voll von mal tragischen, mal komischen Fluchtversuchen. Viele
selbstgebastelte Boote gingen zu Bruch oder wurden wieder zurückgetrieben,
manch einer ertrank beim Versuch, die sechs Kilometer zum Festland zu schwimmen.
(Bei Schwimmwettbewerben schafften es übrigens beinahe nur Frauen,
den kalten Fluten neun bis dreizehn Stunden zu trotzen). Andere versteckten
sich an den unmöglichsten Plätzen oder verwandelten ihr Aussehen,
um in einem günstigen Moment zu entwischen. Jahrelang saß am
Strand ein verzweifelter alter Mann, unablässig Boote bauend, die
von den Aufsehern kurz vor ihrer Fertigstellung immer wieder unerbittlich
zerstört wurden.
Das Inseldasein war so entsetzlich öd, daß manch Besucher
versuchte, Alkolhol und Haschisch einzuschmuggeln, um chronisch kranken
Verwandten ein paar glückliche Augenblicke zu verschaffen. "Fünf
finstere Nymphen" seien bei dem Versuch ertappt worden, solche "verbotene
Artikel" unter ihren weiten Röcken einzuschmuggeln, berichtet
die "Robben Island Times" im Januar 1887. Das Montagsblatt -
Preis: ein Penny, Motto: "Irren ist menschlich" - informierte
die Insulaner einige Jahre über Kultur und Wetter, über entflohene
Kanarienvögel, hungrige Riesenhaie vor der Küste und das Treiben
der schwarzen Schlangen, die zweihundert Jahre zuvor zwecks Bekämpfung
einer Rattenplage auf der Insel von den Behörden sozusagen dienstlich
versetzt worden waren. Bei einem Ball im Männerasyl, so erfahren wir,
ver suchte der ewig steife Südostwind die Lampen auszublasen.
Um die Jahrhundertwende war die Insel gut bevölkert, 100 Gefangene,
500 Geistesgestörte, 1000 Leprakranke, dazu etwa 500 Bedienstete mit
Familienangehörigen, die ein erträgliches Leben hatten, Kino
und Tanzvergnügen inklusive. "Unauffällige" Patienten
arbeiteten als Hausangestellte und durften auch bei den Festivitäten
mitmachen. Die Tochter eines Inselkommandanten etwa, so ist überliefert,
schätzte als Tanzpartner besonders einen charmanten Giftmörder.
Ein ewiger Kampf gegen die Melancholie. Ununterbrochen tutet noch heute
das Nebelhorn, vom freien Teil der Inselbevölkerung nur "Babymacher"
genannt, weil es sie vom Schlaf abhält und zu anderen Aktivitäten
verleitet. Die Wärter beseitigen Langeweile mit Sport: Tennis, Rugby,
Cricket, Korbball, Schießen. Gerade wird ein Golfplatz angelegt.
"Einige halten es hier trotzdem nicht aus," sagt Major Marais,
"die flehen um Versetzung."
Zerstreuung ist überlebenswichtig in dieser meerumschlungenen Einsamkeit.
Die Gefangenen wurden stets auch von der Schufterei abgelenkt: Robben erschlagen
und verarbeiten, Guano von den Felsen kratzen, Penguineier sammeln, Steine
brechen, Muscheln zu Leim verkochen. Nachmittags um halb vier heult die
Sirene, um das Ende des Arbeitstages verkündet. Dann trotten die Gefangenen,
die Rohre verlegt, Häuser verputzt und Seetang gesammelt haben, mit
ihren Aufsehern zu den Zellen zurück.
Auch für uns ist es Zeit, die letzte Fähre zu nehmen. Der
dicke Kruger und der schlanke Marais nuscheln etwas durch ihre Schnauzbärte
und fahren uns noch ein letztes Mal im großen Bogen um die Insel,
vorbei am Leuchturm, den Brutplätzen der Möwen, dem alten Bad
der Leprakranken. (Das salzige Wasser des Atlantik sollte ihre Wunden heilen,
aberdas war auch nur ein frommer Wunsch.) Ganz am Schluß kommen wir
Sekunden am Gefängnisbau vorbei, den unsere beiden Wächter den
ganzen Tag so peinlich vermieden haben. So weit, daß sie uns dieses
steinerne Symbol uralter Unterdrückung bereitwilig vorführen
dürften, geht die Pretorias neue Offenheit denn doch nicht. "Und
hier das Hochsicherheitsgefängnis", sagt der Major mit einem
Anflugvon Hohn in der Stimme. "Vorne sehen sie den vorderen und dahinter
den hinteren Teil."
*
Durch den gelbbräunliche Backsteinbau im Hafen von Kapstadt muß
jeder, der zur Insel will oder von dort kommt. Es ist ein kleines, häßliches
Gebäude mit viel Maschen- und Stacheldraht drumherum. Draußen
weht die Landesflagge, drinnen sieht man ein kitschiges Pferdebild, noch
eine Fahne, eine Sammelbüchse für den Seenotrettungsdienst und
einen verglasten Schalter, hinter dem die Dokumente der Besucher geprüft
werden. Sifizo ist mit der Morgenfähre von der Insel gekommen. "Jemand
da, um den hier abzuholen?", ruft ein Aufseher und ich biete mich
als Chauffeur an.
Seit fünf Jahren hat Sifizo Buthelezi keine Stadt mehr betreten.
Nun stakst er etwas unsicher vor die Tür und lächelt. Wir stellen
uns vor und beginnen sofort zu schnattern. "Auf der Insel sind Politdiskussionen
unser Leben", sagt er und beäugt aus dem Autofenster derweil
die frühe Rush-hour von Kapstadt. "Das habe ich alles noch nie
gesehen", sagt er, "nur einmal ganz kurz aus demGefangenentransporter."
Wir müssen beide lachen.
Vor einer Woche hat er erfahren, daß seine Entlassung ansteht.
Er war sehr aufgeregt, hat kaum noch geschlafen. Eigentlich wäre Sifizo
erst 1995 dran gewesen. Kleckerweise werden die Polit-Gefangenen nun dank
der Verhandlungen zwischen ANC und Regierung freigelassen. "Wir haben
trotzdem das Gefühl, nur Verhandlungsmasse zu sein", berichtet
er von der Insel.
Im Cowley House steht ein kräftiges Frühstück bereit.
Es gibt ein großes Hallo, Umarmungen, gute Wünsche. Die Frauen,
die in der Küche arbeiten, singen und tanzen einen alten Revolutionssong,
eine Huldigung an den bewaffneten Arm des ANC, Umkhonto we Sizwe (Speer
der Nation): "Umkhonto we Sizwe ist wieder da, um die Weißen
zu schlagen, um die Weißen zu schlagen." Nicht ganz zeitgemäß,
aber die Melodie ist sehr hübsch. "Ich habe nichts gegen Weiße",
sagt Sifizo, der für die ANC-Guerilla gekämpft hat. "Die
Frage ist nur, ob man denen, die für all das Unrecht, die Inhaftierung
unserer Führer, die vielen Morde verantwortlich sind, verzeihen kann.
Wir wollen Ruhe, eine friedliche Zukunft. Wenn wir anfangen, Rache zu nehmen,
wird das nur mehr Gewalt auslösen. Und davon hatte Südafrika
ja mehr als genug."
©
Schimmeck
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