Die Insel der Gefangenen

Jahrhundertelang war Robben Island, am Südzipfel Afrikas gelegen, ein Ort der Grauens und der Verbannung. Die weißen Herren luden Kranke und Verrückte, unglückliche Prinzen und meuternde Seeleute auf dem Eiland ab. Alle berühmten Freiheitskämpfer Südafrikas haben hier Jahre verbracht. Doch bald wird die verwunschene Insel von ihrem Fluch befreit. In einem neuen Südafrika wird sie ein hübsches Ausflugsziel sein, Mahnmal für eine lange Epoche voller Leid

1991 
von Tom Schimmeck 

Möwen kreischen durch das klamme Grau eines nebligen Morgens, als wir mit der "Dias" im Hafen vonKapstadt ablegen. Die Wärter, die an der Laderampe stehen, schauen grimmig unter der schlappen Krempe ihrer braunen Stoffhüte hervor. Vorbei geht es an ankernden Frachtern, die im bewegten Wasser der ausladenden Bucht träge schaukeln. Hinter uns der Tafelberg, vor uns der Atlantik, neben uns auf den Holzbänken des Schiffes die schnatternden Omis eines Kapstädter Damenclubs, die auf der nun schon in Sicht kommmenden Insel nur ein paar Muscheln sammeln wollen. 

"Welcome" steht auf dem Portal am Hafen, und in der Buren-Sprache Afrikaans noch einmal "Welkom". Auch Unteroffizier Kruger und Major Marais, eigens zur Begrüßung des seltenen Journalistenbesuchs ans Kai gekommen, haben einen artigen Willkommensgruß auf den Lippen. Und während die restlichen Schiffspassagiere durch das große Röntgengerät schreiten, werden wir in einen Kleinbus verfrachtet, auf holprigen Wegen dem Begrüßungstrunkentgegen. Als wär's ein Ferienparadies. Nur schade, daß man uns nicht traut. Die Herren fahren große Umwege, damit wir nur ja keinen Blick auf den großen Gefängnisbau werfen können. "Das ist kein Ort des Leidens", sagt Kruger. Das will man uns beweisen. 

Indres Naidoo, vor 28 Jahren als "Terrorist" nach Robben Island verbracht, ist mit demselben Schiff gekommen. Doch bei seiner Ankunft standen lange Reihen von Buren mit Flinten an der Pier und brüllten: "Dis die Eiland. Hier julle gaan vrek!" ("Das ist die Insel, hier werdet ihr verrecken.") Auf dem Weg zum Gefängnis stolperten die Häftlinge durch ein Spalier von Wärtern, die sie beschimpften und mit Knüppeln und Gummischläuchen prügelten. Wer englisch redete, galt schon als aufsässig. Das sei die Sprache der "Kaffirfreunde", fanden die Wärter. Bald saßen die "Politischen" im Hof beim Steineklopfen - kahlrasiert und an den Füssen zusammengekettet.

Robben Island, die Robbeninsel, der große Knast im Meer. Viele tausend Unglückliche haben vor uns die 10-Kilometer Reise von Kapstadt zu diesem verfluchten Fleck Erde gemacht: Meuternde Seefahrer, unheilbar Kranke, geistig Verwirrte. Zuvörderst aber und bis zum heutigen Tag alle Gegner der weißen Vorherrschaft an der Südspitze Afrikas - stolze Häuptlinge, rebellische Sklaven. Berühmt der Gefangene Nummer 466/64: Nelson Mandela, Held des schwarzen Befreiungskampfes. Er hat den Großteil seiner 28 Jahre währenden Haft in einer der Einzel-Zellen des "Maximum Security Prison" von Robben Island verbracht. 

Nirgendwo bündelt sich die lange Leidensgeschichte Südafrikas so wie auf diesem gut fünf Quadratkilometer großen Klotz Kalkstein, umspült vom eiskalten Benguela- Strom, der direkt aus der Antarktis kommt. Vor einem halben Jahrtausend gingen Portugiesen, die ums Kap der guten Hoffnung segeln wollten, erstmals hier an Land. Schon bald darauf kam europäischen Entdeckern die Idee, diese karge Insel, nur von Robben und Pinguinen bevölkert, als Strafkolonie zu nutzen. Seither hat der weiße Mann in diesem menschlichen Endlager seine Widersacher und Problemfälle deponiert. Autshumayo, ein Khoi Khoi (Hottentot), den weiße Historiker "Harry den Strandläufer" nannten, war 1658 einer der ersten politischen Gefangenen der holländischen Eroberer. Die Briten luden hier zweihundert Jahre später aufmüpfige Häuptlinge vom Stamme der Xhosas ab, die ihnen bei der Ausdehnung der Kap-Kolonie in die Quere gekommen waren. Kapitäne entledigten sich auf dem nierenförmigen Eiland am Südzipfel Afrikas unbequemer Besatzungsmitglieder. Selbst der König von Madura, einer fernen Insel nördlich von Java, wurden einst dorthin verbannt.

Die Einwanderer am Kap, neben Holländern und Briten auch Deutsche, Polen, Flamen und Franzosen, waren meist düstere, wenig gottesfürchtige Charaktere. Wer sich daneben benahm wurde grausam hart bestraft. Schon ein Soldat, der mehr zu essen verlangte, konnte zum Tode verurteilt werden, oder zu 25 Jahren Zwangsarbeit in den Steinbrüchen der Insel. Selbst der erste Superintendent Robben Islands war zur Strafe dort. Er hatte die Ehre der Frauen am Kap "blasphemisch verletzt", war daraufhin zum gemeinen Soldaten degradiert und auf die Insel gebracht worden. Kein Jahr später wurde er von dort wegen Ungehorsams und fortgesetzter Trunkenheit wieder entfernt. Ein Begleiter des berühmten Captain Cook notierte 1775: "Die Insel ist ein dürrer und sandiger Ort, wo viele Mörder und Schurken festgehalten werden." 

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Auf der südöstlichen Ecke, ein bißchen windgeschützt, liegt ein Dorf mit Kirche, Schule, Postamt. Kinder spielen auf der Straße, die zum Leuchtturm hinaufführt. Doch die Normalität ist trügerisch: Im Krämerladen tragen alle Bediensteten die hellbraune Uniform der Gefängniswärter. Gefangene, im dunkelgrünen Arbeitsanzug, reparieren Dächer, streichen Zäune und gießen die Tomaten im Gewächshaus, bewacht von einem Aufseher mit Schlagstock. Ihre Haare sind kurzgeschoren, ihre Gesicher leer. Andere schneiden den Rasen vor dem großen, weißgetünchten Gästehaus. Hierhin zieht sich Südafrikas Regierung manchmal zurück, wenn es wirklich diskret zugehen soll. Fotografieren verboten.

Versteckt im Gesträuch der Insel verrotten drei riesige Kanonen, je 42 Tonnen schwer, aus dem zweiten Weltkrieg. Die Munitionsdepots daneben sind mit Kakteen getarnt. Zwischen Felsen am Strand liegt das zerbrochene Wrack der Fung Chung II, eines Frischtrawlers aus Taiwan. Der Sturm hat unzählige Schiffe zur Insel getrieben oder in ihrer Umgebung versenkt. Und auch die Autos sind fahrender Schrott, oft fehlen sogar die Türen. Für die Staatsdiener und ihre Familien auf der Insel gibt es keinen TÜV. Nur Bremse und eine Lampe sind zwingend vorgeschrieben.

Auf dem nur spärlich mit Rasen bewachsenen Rugby-Feld tobt sich die Wärter-Jugend mit einer Mannschaft Kapstädter Polizisten aus, die mit der Mittagsfähre gekommen sind. Die Polizisten, wohl noch leicht seekrank, verlieren. "Ich habe hier mal einen Geist getroffen", behauptet Barry Kruger, als wir einer Kirche vorbeikommen, die im 1841 von Häftlingen erbaut wurde. "Nach Mitternacht ging ich hier lang und hatte plötzlich einen Windhauch im Nacken. Dann habe ich etwas Weißes gesehen, so wie Nebel, und einen Weltrekord im Sprinten hingelegt."

Gemeinhin wird der dörfliche Friede nicht durch übersinnliche Erscheinungen, durch Schübe von Angst, Zweifeln, gar Schuldgefühlen getrübt. Ein wohlgenährter Strauß schreitet erhaben über die Hauptstraße und pickt ab und zu nach etwas eßbarem. Ein Wärter knattert mit seinem Moped vorbei. Major Marais lobt die hohe Lebensqualität der Insel. Drei Kneipen haben die 250 Wärter hier, getrennt nach Dienstrang. Am schönsten liegt der Offiziersclub, direkt am Wasser mit Blick auf Kapstadt und die Berge. "Auch die Verbrechensrate ist extrem niedrig", schwärmen unsere Begleiter, ihre Komik selbst nicht bemerkend. In einem gedrungenen Steinbau, dem ehemaligen Leichenschauhaus, ist die Filiale der "Trust Bank" untergebracht, wohl, so meinen unsere Oberwärter, "die sicherste Bank der Welt."

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Einige wollen in den berüchtigten Fleck Erde nun Millionen investieren, um daraus ein Touristenparadies zu machen. "Solange politische Gefangene dort festgehalten wurden, war der Steuerzahler ja bereit, die Kosten zu tragen", meint Nick Malherbe, Geschäftsmann am Kap, der in einem Verein für die Schließung des Gefängnisses und die ™ffnung der Insel streitet. "Doch für einen normalen Knast ist das viel zu teuer." Tatsächlich hat die Regierung schon vor über zehn Jahre einmal beschlossen, die kostspieliege Anstalt zur Verwahrung von gut 1000 Häftlingen zu schließen. Doch Südafrikas Gefängnisse sind so voll, daß Justizminister Kobie Coetsee von diesem Beschluß vorerst nichts mehr hören möchte. Auch wenn der Fährbetrieb und all das insulare Drum und Dran Unsummen verschlingen. Selbst Trinkwasser muß vom Festland herübergebracht werden.

Doch spätestens, wenn die weiße Regierung die Macht abgibt, wird das lange traurige Kapitel der Inselgeschichte wohl beendet sein. Die Investoren können es kaum erwarten. Und auch Schatzsucher, bislang durch strenge Sicherheitsvorkehrungen am Absuchen des Meeresgrundes in der scharf bewachte Ein-Meilen-Zone gehindert, freuen sich auf fette Beute. Etliche Wracks gilt es zu finden. 1694 etwa sank die holländische Dageraad, voll beladen mit Gold.

"Es ist eigentlich eine schöne Insel," meint Walter Sisulu, langjähriger Gefährte von Nelson Mandela auf Robben Island. Der alte Generalsekretär sitzt in seinem Büro im Hauptquartier des African National Congress in Johannesburg und erinnert sich, wie er in Ketten in die Zelle geschafft wurde. Er redet von den Blasen, die sie sich im Steinbruch holten und an die vielen Hungerstreiks, mit denen jede kleine Verbesserung erkämpft werden mußte. Der freundliche, weißhaarige Mann erzählt aber auch von der "Universität" Robben Island. Fast alle "Politischen" haben auf der Insel Fernstudien betrieben und etliche Schul- und Hochschulabschlüsse gemacht. Ständig wurde in den Zellen Schulung betrieben. Selbst burische Wärter bekamen Unterricht von den sogenannten "Terroristen", in Mathematik und sogar in ihrer eigenen Sprache, Afrikaans, die manche von ihnen nicht lesen und schreiben konnten. "So haben die begriffen, daß wir Menschen sind", sagt der Veteran. "In den ersten Jahren stellten sie wortlos das Essen in die Ecke und hielten uns mit Gewehren in Schach, wie Gorillas."

Vom ersten Gespräch mit einem argwöhnischen Gefängniswärter bis zu Verhandlungen mit der weißen Regierung über die Aufgabe ihrer Vorherrschaft, für Sisulu ist das ein stetiger und logisch zwingender Prozeß. "Wir haben nie die Zuversicht verloren", lächelt Sisulu. "Was Weiße über Schwarze und Schwarze über Weiße denken, ist eine Frage des Lernens. Das geht in vielen kleinen Schritten und wird noch viel Zeit brauchen."

*Die Schwarzen Südafrikas nennen den Ort schlicht "the island", meist mit ehrfürchtigem Unterton. Denn die "Islanders" gelten als die dizipliniertesten, entschlossensten und brilliantesten Kämpfer gegen das Apartheid-Regime, eine Elite-Truppe mit viel politischem Gewicht.

"Wer von dort kommt, wird mit großem Respekt betrachtet", meint Jeremy, ein junger Betreuer im Kapstädter Cowley House. Jeremy ist selbst einmal den demütigenden Weg von der Fähre zum Gefängnis gegangen, den sie den "langen Marsch" nennen. "Es hat psychologisch eine ziemliche Wirkung auf dich. Die Aufseher geben kurze, scharfe Kommandos, die Dir Angst machen - Steh auf, stell dich hin, Marsch, Marsch. Sie machen dir von Anfang an klar, daß du ganz allein und in ihren Händen bist."

Im Cowley House betreuen der Ex-Häftling Jeremy und andere seit Jahren Angehörige von Gefangenen, die oft tagelange Reisen machen, um einen kurzen Knastbesuch zu absolvieren. Immer häufiger kümmern sie sich auch entlassene Häftlinge. Für viele, beobachtet der Betreuer, fangen die Probleme nach Jahren der Insel-Einsamkeit erst an: Keine Jobs, kein Platz zum Leben, zerrüttete Familien. Die Insulaner sind meist zwar große Politstrategen, dem rauhen Alltag in den Schwarzen-Ghettos jedoch kaum noch gewachsen. Manche haben Angst davor, auch nur eine Straße zu überqueren.

"Die Willkommens-Party dauert zwei, drei Tage. Dann ist es vorbei", erinnert sich Patrick Matangana, der 18 Jahre auf Robben Island durchgemacht hat. Vor vier Jahren ist er entlassen worden, doch er schläft noch immer bei seinen Eltern auf dem Fußboden und schlägt sich leidlich mit Gelegenheitsjobs durch. Seine größte Sehnsucht ist ein kleines Häuschen - "ganz für mich allein".

Patrick ist noch keine 50, doch in seinen Augen hat sich sich eine tiefe Müdigkeit eingenistet. Die Lebensgeschichte ist typisch für einen ANC-Guerillero. Mit 17 zum ersten Mal verhaftet, weil er im Schwarzen-Ghetto voller Wut mit Steinen auf die gepanzerten Mannschaftswagen der Polizei gezielt hatte - "Ich hatte einfach die Schnauze voll." Wieder in Freiheit ging es richtig los, mit organisierten Benzinbomben-Attacken auf Polizeistationen. Patrick ging in den Untergrund, schlief mal da mal dort, wie viel zornige Jugendliche, die gesucht wurden. "Das war eine große Sache für mich", erzählt Patrick.

Im Gefängnis hatte er Chris Hani kennengelernt, heute einer der ganz Großen des ANC. Eines Tages traf er den Kommandanten in einer Pommesbude wieder: "Wir gehen jetzt weg, um richtig kämpfen zu lernen", sagte Hani zu ihm. Noch am gleichen Tag fuhr Patrick mit ein paar anderen mit dem Zug nach Johannesburg, danach mit einem Kombi bis hinauf nach Zambia und Tansania, in die Trainingscamps des ANC. Er jettete durch die weite Welt: Schießübungen in Algerien, Sprengstoffausbildung in Ägypten, Strategie- und Guerilla-Training in Odessa und Moskau. Dazu geheimdienstliche Unterweisung in der DDR und Spezialkurse für Autofahren und Agentenenttarnung in Kuba.

Nach über fünf Jahren Ausbildung sollte sich der Super-Guerillero Patrick via Zimbabwe, das damals noch Rhodesien hieß und von Weißen regiert wurde, nach Südafrika einschleusen. Doch seine Einheit wurde von der rhodesischen Armee hopsgenommen, er selbst schließlich nach Pretoria ausgeliefert. Im Gefangenentransporter kehrte er in seine Heimat zurück, ohne dort auch nur einen Schuß abgefeuert zu haben. Mit Elektroschocks und "allem Dreck dieser Erde" wurde er gefoltert, dann zu 18 Jahren Haft wegen Terrorismus verurteilt.

Am Neujahrstag 1970 kam er auf die Insel, traf zum ersten Mal Mandela und ANC-Generalsekretär Walter Sisulu. Die zweigten ersteinmal etwas zu essen für die dürren Neuankömmlinge ab. "Und wir konnten mit ihnen alles besprechen, was wir nicht verstanden hatten." Damals mußte man Bücher einschmuggeln und sich mit Rufen und Klopfzeichen verständigen. Zu Essen gab es sauren Porridge mit braunem Zucker. Weder die Wärter noch die anderen Gefangenen durften mit ihnen, den "gefährlichen Menschen", sprechen. Im Steinbruch arbeiteten sie ohne Schuhe und Pullover, in kurzen Hosen dem kalten Wind ausgesetzt. "Die Zellen, die Wärter, die Krankenversorgung, das Fraß, einfach alles war miserabel. Aber irgendwie ist die Insel zu meinem Zuhause geworden", meint Patrick und kratzt sich nachdenklich im Nacken. "Es war einfach klar, daß für lange Zeit alles vorbei ist, daß ich dort vielleicht sterbe."

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Im Staatsarchiv zu Kapstadt kann man in alten, in Leder gebundenen, ein wenig moderig duftenden Folianten blättern, wo handschriftlich alle vermeintlich Verrückten festgehalten sind, der auf die Insel verbannt wurden. Jedes Schicksal eine Zeile: Briten, Buren, Zulus, auch ein österreichischer Tierarzt und ein Deutscher namens August Eggers findet sich dort. Er war 25 Jahre alt, als er in April 1900 auf die Insel verschifft wurde, Seemann, evangelisch, als selbstmordgeneigt und gefährlich eingestuft. Rasse: europäisch. Eingeliefert wegen: Melancholie.

Auch Leprakranke kamen im letzten Jahrhundert auf die Robben-Insel. Sie mußten sich zuweilen mit den Gerippen ausgeweideten Wale begnügen, die Fischer dort zurückgelassen hatten. Eine spezielle "Lepra-Polizei" patroullierte auf der Insel und bewachte nachts die Strände, um die Flucht mit selbstgebastelten Schiffen zu verhindern. Die Geschichte der Insel ist voll von mal tragischen, mal komischen Fluchtversuchen. Viele selbstgebastelte Boote gingen zu Bruch oder wurden wieder zurückgetrieben, manch einer ertrank beim Versuch, die sechs Kilometer zum Festland zu schwimmen. (Bei Schwimmwettbewerben schafften es übrigens beinahe nur Frauen, den kalten Fluten neun bis dreizehn Stunden zu trotzen). Andere versteckten sich an den unmöglichsten Plätzen oder verwandelten ihr Aussehen, um in einem günstigen Moment zu entwischen. Jahrelang saß am Strand ein verzweifelter alter Mann, unablässig Boote bauend, die von den Aufsehern kurz vor ihrer Fertigstellung immer wieder unerbittlich zerstört wurden.

Das Inseldasein war so entsetzlich öd, daß manch Besucher versuchte, Alkolhol und Haschisch einzuschmuggeln, um chronisch kranken Verwandten ein paar glückliche Augenblicke zu verschaffen. "Fünf finstere Nymphen" seien bei dem Versuch ertappt worden, solche "verbotene Artikel" unter ihren weiten Röcken einzuschmuggeln, berichtet die "Robben Island Times" im Januar 1887. Das Montagsblatt - Preis: ein Penny, Motto: "Irren ist menschlich" - informierte die Insulaner einige Jahre über Kultur und Wetter, über entflohene Kanarienvögel, hungrige Riesenhaie vor der Küste und das Treiben der schwarzen Schlangen, die zweihundert Jahre zuvor zwecks Bekämpfung einer Rattenplage auf der Insel von den Behörden sozusagen dienstlich versetzt worden waren. Bei einem Ball im Männerasyl, so erfahren wir, ver suchte der ewig steife Südostwind die Lampen auszublasen. 

Um die Jahrhundertwende war die Insel gut bevölkert, 100 Gefangene, 500 Geistesgestörte, 1000 Leprakranke, dazu etwa 500 Bedienstete mit Familienangehörigen, die ein erträgliches Leben hatten, Kino und Tanzvergnügen inklusive. "Unauffällige" Patienten arbeiteten als Hausangestellte und durften auch bei den Festivitäten mitmachen. Die Tochter eines Inselkommandanten etwa, so ist überliefert, schätzte als Tanzpartner besonders einen charmanten Giftmörder.

Ein ewiger Kampf gegen die Melancholie. Ununterbrochen tutet noch heute das Nebelhorn, vom freien Teil der Inselbevölkerung nur "Babymacher" genannt, weil es sie vom Schlaf abhält und zu anderen Aktivitäten verleitet. Die Wärter beseitigen Langeweile mit Sport: Tennis, Rugby, Cricket, Korbball, Schießen. Gerade wird ein Golfplatz angelegt. "Einige halten es hier trotzdem nicht aus," sagt Major Marais, "die flehen um Versetzung."

Zerstreuung ist überlebenswichtig in dieser meerumschlungenen Einsamkeit. Die Gefangenen wurden stets auch von der Schufterei abgelenkt: Robben erschlagen und verarbeiten, Guano von den Felsen kratzen, Penguineier sammeln, Steine brechen, Muscheln zu Leim verkochen. Nachmittags um halb vier heult die Sirene, um das Ende des Arbeitstages verkündet. Dann trotten die Gefangenen, die Rohre verlegt, Häuser verputzt und Seetang gesammelt haben, mit ihren Aufsehern zu den Zellen zurück.

Auch für uns ist es Zeit, die letzte Fähre zu nehmen. Der dicke Kruger und der schlanke Marais nuscheln etwas durch ihre Schnauzbärte und fahren uns noch ein letztes Mal im großen Bogen um die Insel, vorbei am Leuchturm, den Brutplätzen der Möwen, dem alten Bad der Leprakranken. (Das salzige Wasser des Atlantik sollte ihre Wunden heilen, aberdas war auch nur ein frommer Wunsch.) Ganz am Schluß kommen wir Sekunden am Gefängnisbau vorbei, den unsere beiden Wächter den ganzen Tag so peinlich vermieden haben. So weit, daß sie uns dieses steinerne Symbol uralter Unterdrückung bereitwilig vorführen dürften, geht die Pretorias neue Offenheit denn doch nicht. "Und hier das Hochsicherheitsgefängnis", sagt der Major mit einem Anflugvon Hohn in der Stimme. "Vorne sehen sie den vorderen und dahinter den hinteren Teil."

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Durch den gelbbräunliche Backsteinbau im Hafen von Kapstadt muß jeder, der zur Insel will oder von dort kommt. Es ist ein kleines, häßliches Gebäude mit viel Maschen- und Stacheldraht drumherum. Draußen weht die Landesflagge, drinnen sieht man ein kitschiges Pferdebild, noch eine Fahne, eine Sammelbüchse für den Seenotrettungsdienst und einen verglasten Schalter, hinter dem die Dokumente der Besucher geprüft werden. Sifizo ist mit der Morgenfähre von der Insel gekommen. "Jemand da, um den hier abzuholen?", ruft ein Aufseher und ich biete mich als Chauffeur an. 

Seit fünf Jahren hat Sifizo Buthelezi keine Stadt mehr betreten. Nun stakst er etwas unsicher vor die Tür und lächelt. Wir stellen uns vor und beginnen sofort zu schnattern. "Auf der Insel sind Politdiskussionen unser Leben", sagt er und beäugt aus dem Autofenster derweil die frühe Rush-hour von Kapstadt. "Das habe ich alles noch nie gesehen", sagt er, "nur einmal ganz kurz aus demGefangenentransporter." Wir müssen beide lachen. 

Vor einer Woche hat er erfahren, daß seine Entlassung ansteht. Er war sehr aufgeregt, hat kaum noch geschlafen. Eigentlich wäre Sifizo erst 1995 dran gewesen. Kleckerweise werden die Polit-Gefangenen nun dank der Verhandlungen zwischen ANC und Regierung freigelassen. "Wir haben trotzdem das Gefühl, nur Verhandlungsmasse zu sein", berichtet er von der Insel.

Im Cowley House steht ein kräftiges Frühstück bereit. Es gibt ein großes Hallo, Umarmungen, gute Wünsche. Die Frauen, die in der Küche arbeiten, singen und tanzen einen alten Revolutionssong, eine Huldigung an den bewaffneten Arm des ANC, Umkhonto we Sizwe (Speer der Nation): "Umkhonto we Sizwe ist wieder da, um die Weißen zu schlagen, um die Weißen zu schlagen." Nicht ganz zeitgemäß, aber die Melodie ist sehr hübsch. "Ich habe nichts gegen Weiße", sagt Sifizo, der für die ANC-Guerilla gekämpft hat. "Die Frage ist nur, ob man denen, die für all das Unrecht, die Inhaftierung unserer Führer, die vielen Morde verantwortlich sind, verzeihen kann. Wir wollen Ruhe, eine friedliche Zukunft. Wenn wir anfangen, Rache zu nehmen, wird das nur mehr Gewalt auslösen. Und davon hatte Südafrika ja mehr als genug."

© Schimmeck