„Ick bin Ossi und
dit is cool“
Pizza-Hunger und Pionierstolz – die
Ost-Jugend bastelt an ihrer Identität. Ein Lokaltermin im „Grenzstädtchen“
Salzwedel
1995
von Tom Schimmeck
Wenn das hier die Jugend ist, ist alles in Butter:
so offen und geistreich, locker und witzig. Sie plappern wild durcheinander,
erzählen, debattieren und blödeln. Es macht einfach Spaß,
ihnen zuzuhören.
Sie – das sind Sina, Jana, Dana, Susanne, Steffi, Ulrike, Janine, Claudia,
Diana, Veronika und drei ziemlich verschüchterte Jungs: Christian,
Karsten und René. Die Schüler eines Kunst-Kurses im Abschlußjahrgang
des Jahn-Gymnasiums zu Salzwedel. Jugendliche made in DDR, circa 18 Jahre
alt.
Ihr Städtchen lag einst versteckt in einem Zipfel der DDR, der
zwischen Wolfsburg und dem Wendland gen Westen lugte. 23 000 Seelen in
Fachwerk- und Plattenbauten. Die Landschaft, notierte der letzte Wanderführer
vom VEB Tourist Verlag, „trägt im allgemeinen einen recht einheitlichen,
abwechslungsreichen Charakter“.
Am Rande des Städtchens, nach Norden und Westen hin, begann die
Sperrzone, nur mit Paß und Passierschein zu betreten. Der Westen
war nah – und doch Lichtjahre entfernt. Sie haben Westfernsehen geguckt,
aber der Westen war böse. Alle erinnern sich an das eine Foto aus
dem Schulbuch über das wahre Leben in der BRD: lange Schlangen vor
dem Arbeitsamt.
Hat diese undurchdringliche Grenze sie nicht ganz kribbelig gemacht?
„Man kannte es ja nicht anders“, sagt Ulrike. Als Kind, meint Claudia,
habe einen das nicht interessiert. „Wir wußten ja: Wir leben in einem
Staat, der ein bißchen anders ist“, erzählt Sina.
Der Westen, das war ein anderer Planet, von dem fremde Bilder kamen
und kleine Genüsse: „Ritter Sport“ zum Beispiel, zu Weihnachten von
Verwandten geschickt. Ulrike erinnert sich ganz genau an Cornflakes, Matchbox-Autos
und die erste „Bravo“, die jemand aus Clenze, einem Kuhdorf gleich hinter
der Grenze, mitbrachte: „Ich hab’ gedacht, was muß das für ein
wunderbarer Ort sein. Aber ich hab’ nie gelitten, ich war Pionier und stolz
darauf.“ „Ich stand voll dahinter“, sagt auch Claudia, „ich habe gedacht,
wir führten das beste Leben, das es gibt.“
Veronika dreht sich verblüfft zu ihr um. Sie hat andere Erfahrungen
gemacht. Ihr Bruder galt als Abweichler, die Eltern waren religiös.
„Ich hatte oft Trouble mit den Lehrern. Auf die EOS wäre ich nie gekommen.“
EOS war die Erweiterte Oberschule, die DDR-Variante des Gymnasiums.
Sie erzählen vom Intershop, wo es einst Nesquick und West-Schleckereien
gab. Und erinnern sich sogleich, beinahe wehmütig, an den Geschmack
der Ost-Drops, des 10-Pfennig-Brausepulvers, der billigen, volkseigenen
„Schlager Süß“-Schokolade. Auch an die Gerüche: zum Beispiel
„Action“, eine ganz berüchtigte Körperpflege-Serie aus VEB-Produktion.
Und wie riecht der Westen? „So süßlich“, ruft Diana. Die Klasse
brüllt vor Lachen.
Der Westen hatte seine Reize, aber er war nicht sehr real. Das Leben
fand hier statt, in der Familie, der Schule, und es war voll von Regeln
und Ritualen. Sie alle haben respektvoll zu Hammer und Sichel aufgeschaut,
dazu das „Seid bereit! Immer bereit!“ der Pioniere gerufen. Sie haben „Bummi“
gelesen und die „ABC-Zeitung“, dann „Frösi“ (was für „Fröhlich
sein und singen“ stand) und die „Trommel“, die brave Ost-„Bravo“. Sie hielten
Brieffreundschaften mit dem russischen Brudervolk. Und natürlich hatten
sie alle Abkürzungen drauf: von DSF (Deutsch-Sowjetische Freundschaft)
bis ODF (Opfer des Faschismus).
Salzwedel war die Stadt der verläßlichen Genossen, voll mit
Grenztruppen und anderen Staatsorganen. Doch im November 1989, als der
Staat bröckelte, gab es auch hier Demonstrationen und hitzige Debatten
im Kulturhaus, wo die Funktionäre plötzlich zu stammeln begannen.
Als die Grenze aufging, strömte halb Salzwedel nach „drüben“,
der Stau reichte vom Grenzposten sechs Kilometer bis in die Stadt. Andy,
heute 20, hat sich damals sein Moped geschnappt, seine 100 Mark Begrüßungsgeld
abgeholt, eine Jeans und eine Cola gekauft und „erst mal rumgegafft“. Als
Ossi unter tausend verzückten Ossis hat er sich „stellenweise auch
geschämt“.
Andy ist jetzt gelernter Elektriker – und arbeitslos. Zum Glück
hat er eine Band, zusammen mit Sven und Oliver: „Reptile Bile“, Reptilgalle.
Wenn sie im Keller des Schülerfreizeitzentrums proben, springt fast
die Tür aus den Angeln.
Die Zeit seit ‘89, das waren „schnelle Jahre“, sagt Andy. „Mein Vater
war Bulle. Ich hab’ in einer Stasi-Siedlung gelebt. Früher sind die
immer in Uniform Richtung Grenze marschiert. Aber irgendwie haben sie alle
die Kurve gekriegt, sind heute Bauleiter und Versicherungsvertreter.“ Und
seine Staatsbürgerkunde-Lehrerin fährt jetzt einen dicken Westwagen.
Dabei hat sie ihm eingebleut: „Der Kapitalismus hat keine Chance, der Sozialismus
wird siegen.“ Das ärgert und ekelt ihn. Er wählt PDS, aber er
hat keine Sehnsucht nach Erich Honecker. Sicher, sagt Andy, „das Feeling
untereinander war früher gut, aber immer ‘ne Hand obendrauf. Nun geht’s
halt nach Ellenbogen. Das gefällt mir auch nicht. Aber was soll sonst
sein? Jeder zieht sein Ding durch.“
Als die Autoritäten purzelten, entstand ein ziemliches Vakuum.
Einige schoren sich die Schädel und wurden Skins, das Gros der Salzwedeler
Kids gab sich eher links. „Antifas“ und „Nazis“ lieferten sich blutige
Schlachten, die Polizei schaute erst einmal weg. „Die hatten keine Lust,
sich mit Jugendlichen zu kloppen, ohne zu wissen, ob sie ihren Job behalten“,
vermutet Andy. „Da war eine Weile nicht klar, wer hier den Hut aufhat“,
meint sein Kumpel Sven.
Rabatz aus Leere? „Man war irgendwie heimatlos“, erinnert sich ein anderer
Sven, ein dünner Rothaariger, 19 Jahre alt, gelernter Radio- und Fernsehtechniker
und ebenfalls arbeitslos. „Dein Staat war weg, und du brauchtest irgend
etwas.“
Schließlich hat die Polizei dann doch durchgegriffen. Vor allem
die Rechten, die brutaler und dümmer waren (und auch die Polizei attackierten),
wurden energisch abgestraft. Jetzt ist es ruhig in Salzwedel. Bis auf die
„normale“ Kriminalität, die, mutmaßt der Polizeichef, direkt
aus der hohen Arbeitslosigkeit und dem Frust der Jugendlichen erwächst.
36,5 Prozent der im vergangenen Jahr ermittelten Tatverdächtigen waren
unter 21 Jahre alt. Bei einfachem Diebstahl betrug ihr Anteil 42 Prozent,
bei schwerem sogar 66 Prozent. Vorletzte Woche haben die Beamten drei junge
Okkultisten geschnappt, die sich gerade anschickten, einen Sarg zu stehlen.
Der rothaarige Sven ist so eine Art Hausphilosoph im Jugendzentrum „Kindergarten
VI“, einem baufälligen Haus am Bahnübergang, das sich eine große
Clique selbst zurechtgemacht hat. Sein Redefluß ist gewaltig, die
Welt erscheint ihm als riesige Verschwörung. Die anderen nicken, während
er von seiner Enttäuschung über Gesellschaftssysteme aller Art
spricht, von den großen Worten und dem Zusammenbruch des einen und
dem nicht minder dummen Gerede des anderen, neuen. Das komme ihm vor, sagt
er, „als wenn ich ein Sklave wäre und einer mich an den anderen verkauft
hätte“.
Alle rauchen, eine Flasche „Liebfraumilch“ kreist (von „netto“ für
2,39 Mark), und Sven redet über die Pein des Konsums, den Überfluß
in all den neuen Supermärkten. Es ist, als würde ihn das riesige
Warenangebot überwältigen, verwirren und erschöpfen. „Der
Überblick“, klagt er, „ist nicht mehr da.“ „Genau“, stimmt Diana ein.
„Neulich stand ich vor so einem Riesenregal und hatte einen kleinen Hunger.
Ich bin wieder rausgegangen und hab’ nix gegessen.“
„Sie spielen Ost und West gegeneinander aus wie Vater und Mutter“, meint
ein Sozialarbeiter, der aus dem Westen stammt. Doris Gensch, 31, Salzwedels
erste Jugendpflegerin der Nach-Wendezeit, sieht das ganz anders. Sie hält
sich selbst für eine „typische DDR-Bürgerin“. Sie hat Krippe,
Hort, Junge Pioniere (von der 1. bis 4. Klasse, mit weißer Bluse
und blauem Halstuch), Thälmann-Pioniere (ab der 5., mit rotem Halstuch)
durchgemacht. Mit der 8. Klasse kam die Jugendweihe, der Staatsbürgerkunde-Unterricht
und das blaue Hemd der FDJ.
„Das schlechteste war das nicht“, meint sie. Sicher, wenn man nicht
beim Pioniernachmittag aufkreuzte, gab es Ärger. Inhaltlich habe sie
auch gar keine Sehnsucht danach. Aber nach dem großen Angebot, dieser
„Freizeitsteuerung“ schon.
Frau Gensch hat an die SED geglaubt, sie war am Schluß Parteisekretärin
für den Bereich Kinderkrippen (für die sie heute in der Stadtverwaltung
wieder zuständig ist). Sie ist freundlich und erzählt frei von
der Leber weg. Von der Sprache, der Kleidung, dem Habitus her würde
man sie als junge Progressive einstufen.
Wenn nicht diese Wehmut nach alter Zucht und Ordnung durchschimmern
würde: In der Wendezeit, klagt sie, hätten Lehrer „die Seele
baumeln lassen“ und die Schüler derweil „ihren Machtbereich erheblich
erweitert“. Plötzlich hat sie die gute alte Zeit parat: Wenn sie früher
in der Schule „Mist machte“, erzählt sie, habe es handfesten Ärger
gegeben. Die Lehrer hätten sogar Hausbesuche gemacht. Und die Eltern
„bekamen echte Probleme, wenn sie ihre Kinder nicht auf die Reihe gekriegt
haben“.
Ob sich die Jugendlichen das Reglement von einst noch bieten lassen
würden? Wer heute das Jahn-Gymnasium betritt, hat Mühe, den Osten
zu erkennen. An der Kleidung sind sie nicht mehr zu unterscheiden. Je jünger
die Schüler sind, desto westlicher wirken sie. Die Kleinen, schimpfen
Claudia, Ulrike und Co., seien frech, hätten nur Klamotten und PS-Zahlen
im Kopf. Die stellten riesige Ansprüche, würden alles als selbstverständlich
ansehen. „Klassenzusammenhalt kennen die gar nicht mehr.“
Die 18jährigen, zwölf Jahre sozialistisch, sechs Jahre kapitalistisch
erzogen, hängen zwischen den Welten. Manchmal klingen sie fast (n)ostalgisch,
im nächsten Augenblick aber spotten sie über die Absurditäten
von einst. Kinder der Wende: voller Widersprüche und doch überraschend
robust. Sie haben noch immer Heißhunger auf Cheeseburger, Pommes,
Pizza und Eis am Stil. Aber keine großen Illusionen mehr. Sie wollen
nur einen guten Job.
Und ein bißchen Stolz. Christian hat – „aus Gag“ – eine DDR-Fahne
über dem Bett hängen. Claudia ärgert sich schon, daß
sie ihren Pionierausweis so schnell zerrissen hat. „Das war doch ein Erinnerungsstück.“
Einige sammeln jetzt die Urkunden, die es früher bei jeder Gelegenheit
gab. Für tüchtigen Sport, fleißiges Lernen und vorbildliches
Altstoff-Sammeln. Betont pflegen sie ein paar „eigene“ Wörter: Plaste
(Plastik), Trinkröhrchen (Strohhalm), Broiler (Brathähnchen)
und „urstoll“ (spitze).
Sind sie noch anders? Sie suchen schon fast nach Unterschieden. Die
Jungs, die von drüben in ihre Dorfdisco kommen, glaubt Claudia, hätten
eine „total andere Einstellung“. Die seien es nicht gewohnt, daß
Mädchen selbständig und mutig sind und einen Mopedführerschein
haben.
„Ach nee“, widerspricht Steffi, „politisch sind wir viel weniger mutig.“
„Aber wir planen mehr“, meint Sina, „die da drüben leben doch in den
Tag hinein.“ „Stimmt“, sagt Claudia, „wir sind realistischer. Ick bin halt’n
Ossi, und dit ist doch ooch cool.“
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Schimmeck |