Der Anti-Orwell
Nicolas Negroponte, Computer-Guru aus
Cambridge, verheißt der Menschheit eine große digitale Zukunft
1995
von Tom Schimmeck
Er ist ein sehr untypischer Computerfreak: kein
käsiger Teint. Kein strenger Geruch. Keine nervösen Muskelzuckungen.
Kein Kauderwelsch.
Nicholas P. Negroponte (50), Chef des Media Laboratory zu Cambridge,
ist genau jener Typ, dem der Herr Vorstandsvorsitzende gern lauscht: Er
ist gepflegt, wirkt seriös, formuliert flüssig, brummt vor Zuversicht
und sagt klipp und klar, wo es langgeht.
An seinem Institut, Teil des renommierten Massachusetts Institute of
Technology (MIT), wird, wie man selbstbewußt tönt, „die Zukunft
erfunden“. Rund 300 Studenten und Wissenschaftler tüfteln an über
100 Forschungsprojekten. Sie suchen nach neuen Wegen des Lernens und der
Wahrnehmung, neuen Formen von Kommunikation, Zeitung, TV und Video.
Verrückt sein ist Trumpf: Man spielt mit virtuellen Hunden, baut
Computer in Schuhe und Sweatshirts ein. Es gibt ein Programm, das 100 000
Bits pro Sekunde durch Händeschütteln überträgt. Auf
daß der Mensch völlig vernetzt sei.
Negroponte, Gründer und Chef, galt früher selbst als ziemlich
gaga, als „borderline nutcase“ (etwa: Grenzdebiler), wie der „Economist“
einst schrieb. Heute ist er ein international gefragter Prophet. Im Media
Lab nutzen Firmen- und Regierungsvertreter en masse die Auslegeware ab.
„Es hat viel mehr Spaß gemacht, für verrückt gehalten zu
werden“, sagt Negroponte mit Wehmut. „Nun denken alle, ich habe recht,
und es wird irgendwie langweilig.“
Rastlos jettet er um die Welt, um seine Botschaft zu verbreiten. Die
lautet, leicht verkürzt: Fürchtet euch nicht. Die digitale Zukunft
wird sein, und sie wird gut.
Seit Jahren verkündet der Cyber-Guru dies in seinen Kolumnen für
„Wired“, eine Zeitschrift aus San Franzisko, die in der Computer-Szene
als trendy gilt. Gesammelt erscheinen sie jetzt auch auf deutsch in dem
Buch „Total digital“.
Eigentlich ein Paradoxon. Denn Nicholas Negroponte mag keine Bücher,
sagt ihnen immer wieder einen baldigen Tod voraus. Er liest ungern. Nicht
daß dies ein Geheimnis wäre: Negroponte bekennt es im ersten
Satz seines Werkes. „Ich schreibe vielleicht mehr, als ich lese“, sagt
er im Gespräch. Gestern etwa, auf dem Flug von London nach Boston,
habe er zwei „Wired“-Artikel und 100 E-Mails geschrieben.
Dafür wird er gelesen. Sein Buch ist ein Renner in den USA. Weil
es die vom Tempo der technischen Entwicklung überforderten Menschen,
also fast alle, an die Hand nimmt, um ihnen zu zeigen, wo wir stehen und
wohin wir, so er recht hat, gehen.
Seine griffige Rhetorik begeistert auch Technik-Laien. Seine Visionen
wirken in sich schlüssig. Man neigt dazu, dem Mann zu glauben.
Dabei verbreitet er einen geradezu brachialen Optimismus. Das digitale
Zeitalter, prophezeit er, wird Hierarchien sprengen, die Gesellschaft globalisieren,
politische und wirtschaftliche Kontrolle dezentralisieren und – Hosianna!
– mehr Harmonie unter den Menschen bringen. Der Nationalstaat könnte
dann ganz verschwinden.
Die digitale Zukunft kennt nur 0 und 1, keinen Klassen- oder Rassenhaß,
lautet die Verheißung. Unterschiede zwischen Weib und Mann, Schwarz
und Weiß, Reich und Arm, Nord und Süd werden bedeutungslos.
Am Ende sind wir wohl alle Brüder und Schwestern.
Nicht daß Negroponte kritiklos wäre. 500 TV-Kanäle etwa
sieht er nicht als Fortschritt. Es gehe auch um Qualität. Das Medium
Fernsehen scheint ihm noch fremder zu sein als das Buch: „Wenn ich in der
Woche zehn Minuten Fernsehen gucke“, sagt der große Kommunikator,
„ist das viel.“
So völlig neu, das räumt er selbst ein, ist die futuristische
Kunde nicht: Die Vernetzung der Erde schreitet voran, Maschinen werden
intelligenter. Bald wird der Fernsehapparat („derzeit wahrscheinlich das
dümmste Elektrogerät in Ihrem Haushalt“, sagt er) mehr über
seinen „User“ wissen, ihm ein individuelles, womöglich erträgliches
Programm bieten. Irgendwann wird es auch wirklich brauchbare, handliche
Monitore geben, wird die Tastatur nur noch eine Nebenrolle spielen, weil
Computer Sprache und andere Signale verstehen. Maschinen werden miteinander
kommunizieren. Nicht nur Computer, Fernseher und Telefon, auch die Tiefkühltruhe,
der Staubsauger und das Auto. Ja und?
Werfen wir Negroponte ein paar Stichworte an den Kopf: 1. Arbeitslosigkeit.
Nach Fertigstellung des Buches, sagt er, habe er mehr darüber nachgedacht.
Kein Zweifel: „Wenn wir im Büro den selben Grad an Automatisierung
einführen wie in den Fabriken, wird es eine riesige neue Welle von
Arbeitslosigkeit geben.“ Doch er lächelt auch jetzt: Anno 2010, glaubt
er, „wird der größe Arbeitgeber ‘Self“ (Selbst) heißen“
– viele werden lernen, wie man daheim globale Geschäfte im Internet
macht.
2. Datenschutz. Ist die Privatsphäre in der volldigitalisierten
Welt nicht endgültig perdu? Die Weitergabe von Informationen zum Zwecke
der Bequemlichkeit sei nicht neu, meint der Anti-Orwell, wer delegiere,
gebe Privatheit ab. Er selbst habe eine Hausangestellte, die mehr über
ihn wisse als sonst ein Mensch.
3. Elend. Was wird aus Entwicklungsländern, wo es oft nicht einmal
Telefon gibt? „Entwicklungsländer“, sagt der fröhliche Negroponte,
„haben nicht die Last alter Strukturen. Die bauen gleich ein digitales
Telefonnetz, das ist billiger und geht schneller.“ Auch lebten dort viele
junge Menschen, eine neue Generation fürs Internet.
Noch eine Frage: Wäre im Digitalzeitalter ein Hitler möglich?
„Nein“, sagt Nicholas Negroponte, „es gibt dann keinen Zentralismus mehr.
Was Europäer selten verstehen.“
Negroponte und sein Media Lab, schimpft Mark Slouka, Autor eines neuen
Buches über den „High-Tech Angriff auf die Realität“ in den USA,
würden mit vielen Sponsor-Dollars ohne jede politische Kontrolle an
der vollständigen Computerisierung der Gesellschaft arbeiten.
Das Institut, das ist wahr, wird überwiegend von Firmen finanziert
– zur Hälfte aus Amerika, zu je einem Viertel aus Europa und dem Fernen
Osten. Die Liste der Geldgeber liest sich wie ein „Who is who“ aus Hi-Tech-
und Kommunikation: Sony und Philips, die „New York Times“ und Bertelsmann,
AT&T, Apple, IBM, Intel, Microsoft, auch Lego, Schlumberger und die
US Army. Selbst eine Papierfabrik gibt Geld – weil sie, spottet Negroponte,
„einen Fuß im Lager des Feindes haben will“.
Das Geheimnis des „Lab“? Freiheit. In der Eingangshalle klimpert ein
Flügel, von einem Computer gesteuert. In den Büros herrscht eine
Atmosphäre relaxter Plackerei. Junge Menschen flegeln vor ihren Monitoren,
wippen im Takt von Musik aus ihren Kopfhörern. Keine ewigen Konferenzen,
keine Hierarchie lähmt den Forscherdrang. „Und die interessantesten
Projekte“, sagt der Boß, „sind die, von denen ich nichts weiß.“
NICHOLAS NEGROPONTE (50) ist Gründer
und Direktor des MEDIA LAB am Massachusetts Institute of Technology (MIT)
in Cambridge. Das seit zehn Jahren bestehende Medienlabor befaßt
sich mit dem Studium der Kommunikation. Negroponte, Sohn einer griechischen
Reederfamilie und studierter ARCHITEKT, gilt als der „Guru eines neuen
Medienzeitalters“ („Weltwoche“). Seine Vision: Der Mensch gewinnt die Herrschaft
über die Medien zurück. Von der individuellen Zeitung bis zum
Kühlschrank, der neue Milch ordert, bevor die alte verzehrt ist, sollen
Computer alle Mühen des menschlichen Lebens mindern. Privat ist Negroponte
allerdings ganz altmodisch vernetzt: Seine Frau Elaine informiert ihn beim
Frühstück über Neues aus aller Welt.
©
Schimmeck |