Deutschland, erwachsen
London, Paris, Berlin, Moskau: Zum
50. Jahrestag des Kriegsendes präsentierte sich Helmut Kohl als Kanzler
einer Siegermacht
1995
von Tom Schimmeck
SAMSTAG, 6. MAI
LONDON. VERSÖHNUNG.
The Chancellor of the Republic of Germany“, ruft der Toastmaster. Schon
pflügt unser Kohl in den Festsaal, frisch rasiert und geduscht. Mit
einem Schwung, den die Masse macht. Beifall brandet auf. Oh, das tut ihm
gut. Er strahlt, wendet sich wohlig in alle Richtungen.
Die Sieger vom 8. Mai 1945 feiern den 50. Jahrestag des VE-Day, des
allierten Sieges in Europa. Und Deutschland darf mitfeiern, genauer gesagt:
Bundespräsident Roman Herzog, Außenminister Klaus Kinkel und
– Gaststar des Abends – der Kanzler. Ein Auftritt nach Kohls Geschmack.
Als er sich ins Gästebuch einträgt, flutscht die freche Zunge
über die Lippen, ein beinahe rührendes Zeichen Kohlscher Erregung.
Auch seine Zunge ist in diesen Tagen viel unterwegs.
Die Queen hält in der festlich geschmückten Guildhall eine
große Rede: gegen Lüge, Haß und Krieg. Für Verständnis,
Toleranz, Freundschaft. Sie würdigt Adenauer und auch die kleinen
Gruppen des deutschen Widerstands gegen die Nazis. Sie konstatiert, daß
„frühere Feinde die engsten Freunde geworden sind“. Die Rede gefällt
Kohl. Die Fernsehkameras zoomen sich auf ihn ein. Kohls Präsenz, deklamiert
der BBC-Moderator, sei wohl das „deutlichste Zeichen von Versöhnung“.
Im Dezember 1940 brannte die Guildhall, Schauplatz königlicher
Feste und Empfänge seit 1411, nach einem deutschen Luftangriff völlig
aus. Heute ist sie prunkvoll dekoriert. Das alte, tote Empire greift noch
einmal tief in die Kiste: mit Uniformen, Edelsteinen, Frühlingsblumen
und Fanfaren. Die Zeremonie ist perfekt, voller Würde und Harmonie.
Mehr als ein halbes Hundert Könige, Präsidenten und Premiers
sind versammelt. Und alle so nett zu Kohl, dem guten Deutschen.
So läßt sich Vergangenheit aushalten. So hat Helmut Kohl
es gewollt. Im Sturmschritt eilt er von Festakt zu Festakt: vier Hauptstädte
in 72 Stunden, Berlin gleich zweimal. Von der Guildhall über St. Pauls
Cathedral, den Buckingham Palace, das Centrum Judaicum, den Arc de Triomphe,
den Elysée-Palast, das Berliner Konzerthaus bis zum Roten Platz
und dem Kreml. Da kann selbst die entschlossenste japanische Reisegruppe
nicht mithalten.
Nach dem Guildhall-Bankett muß er auch Volkes Stimmung testen.
Am Trafalgar Square – wo am VE-Day 1945 das Ende des Krieges gefeiert wurde
– springt Kohl zum Entsetzen der Sicherheitsleute aus der bauchigen Daimler-Limousine
und stürzt sich in die Menge. Er will Atmosphäre schnuppern,
die Stimmung spüren. Viele hätten ihn erkannt, berichtet er später.
Alle, gerade die jungen Leute, seien sehr freundlich gewesen, hätten
ihn begrüßt, „eigentlich wie in Deutschland auch“.
Hernach zieht Kohls kleine Schar in ein Lokal an der Themse – zum Essen.
Weil man bei diesen langezogenen Banketten, zumal den englischen, nichts
Richtiges in den Bauch bekommt. Nur Hummerschwänze und Minzsorbet.
Im Hotel zupfen die Bediensteten immer wieder den roten Teppich zurecht.
„Eigentlich“, erklärt der Hotelmanager, „haben nur Staatsoberhäupter
darauf Anspruch. Aber der Kanzler ist ein so guter Freund unseres Hauses
É“ Doch auch seine Geduld hat Grenzen. Als Kohl nach Mitternacht
zurückkehrt, ist der Teppich längst eingerollt.
SONNTAG, 7. MAI
LONDON. GOTTESDIENST.
Der Kanzler ist zufrieden. Besonders der persönliche Spezialapplaus
beim Bankett hat ihm wohlgetan. Hier wird nicht nur an die Schrecken erinnert,
hier wird auch der Frieden gewürdigt und nach vorne geguckt, ganz
wie er es immer predigt. Er wußte es: Diese Europatournee wird ein
enormer Streß. Aber die Symbolik hat Wucht.
Im Hyde Park feiern Hunderttausende, in Uniformen und in Shorts. Sie
zeigen ihre Orden und essen Fish and Chips, sie bestaunen alte Bomber und
schlecken Soft Ice. Ute Lemper singt „Lilli Marleen“. Ein Volksfest des
Erinnerns, mit Swing und viel Marschmusik. Mit spielenden Kindern und stolzen
Veteranen. Hinter dem großen, blumenbepflanzten Globus, auf dem Deutschland
mit Kornblumen vertreten ist, steigen 1000 Friedenstauben auf.
In der St. Pauls Cathedral wird für Frieden gebetet. Geistliche
aus vielen Ländern lesen eine Litanei der Versöhnung. Kinder
tragen Kerzen. Prinz Charles küßt Lady Di. Und dann singen alle
„God save the Queen“.
Aber der Kanzler ist auch sauer. Die britischen Sonntagsblätter
zerpflücken seine Erklärung zum 8. Mai, in Bonn vor seiner Abreise
veröffentlicht. Kohl hat darin klar von der „Befreiung von der Hitler-Barbarei“
geredet. Aber er hat auch „die Hölle der Konzentrationslager“ mit
dem „Sterben auf den Schlachtfeldern“ und der „Trauer von Vertriebenen“
gekoppelt. So ist der Eindruck entstanden, als wolle er ein bißchen
aufrechnen. Das Board of Deputies of British Jews, die Veteranen der Royal
British Legion und einige Abgeordnete fordern Kohl auf, sich zu erinnern,
daß die Nazis die Aggressoren waren.
Die „Times“ nimmt ihn hart ran: Teile von Deutschlands politischer Klasse,
meint das Blatt, versuchten heute, eine „Symmetrie des Leidens“ zu schaffen.
Beispiel: Kohl. Der Kanzler versteht das nicht. Er ist ehrlich empört:
Seine Erklärung sei „im allgemeinen hoch gerühmt“ worden, schimpft
er, nur „eine einzige Gruppe“ habe da, angestachelt von „unanständigen“
Journalisten, etwas falsch verstanden.
Verglichen mit Kohls Versuch in Bitburg vor zehn Jahren, alle, SS-Soldaten
inklusive, zu Opfern des Nationalsozialismus zu erklären, ist die
heutige Kohl-Linie moderat. Doch sie bleibt verschwommen, vom Bestreben
gezeichnet, es allen Parteifreunden recht zu machen. Ergebnis: Für
jeden ist etwas drin, aber keiner wird satt.
Selbst die „Musterrede“ zum 8. Mai, die die CDU an ihre Funktionäre
verteilte, ist klarer als Kohl: „Unter Geschichte läßt sich
kein Schlußstrich ziehen.“ Warum hat Kohl das nicht gesagt? Liegt
es an seiner Einstellung, oder hat er eher ein Transportproblem?
Vor der Kamara von Sat 1 redet er am Morgen über die 80 000 Toten,
die der Luftkrieg gegen London „gekostet hat“ – stockt dann, bemerkt selbst,
daß das Wort nicht paßt. Nur fällt ihm kein besseres ein.
Ein paar Sekunden später, als er bei der Jugend und ihrer Einstellung
zum Krieg angekommen ist, kämpft er schon wieder mit seiner Muttersprache:
Man müsse aufpassen, sagt Kohl, daß die Jungen nicht schon „jenseits
des Berges angekommen sind, und wir sitzen immer noch vor den Toren“.
Dann schwingt er sich in den bauchigen Daimler, und die Kolonne prescht
zum nächsten Festakt.
MONTAG, 8. MAI
PARIS. FEIERTAG.
Am Vorabend hat der Kanzler das Centrum Judaicum in Berlin eingeweiht.
Seit 7.35 Uhr sitzt er im Flieger nach Paris, Frühstück an Bord.
Wieder erwartet ihn ein enormes Aufgebot an Staatsoberhäuptern. Eine
monströse Staatsshow am Arc de Triomphe. Die Limousinen der Weltenlenker
brausen heran. Eine leichte Brise läßt die Fahnen flattern,
besonders die riesige Trikolore im Innern des Bogens. Frankreich feiert
zunächst sich selbst. Sogar die Zuckerstückchen zum Café
sind in den Nationalfarben verpackt.
Kohls flächiges Gesicht strahlt zufrieden lächelnd aus der
Menge der 55 Staats- und 18 Regierungschefs in Tribüne A. Er schüttelt
Hände, winkt den hinteren Reihen lässig zu. Lange plaudert er
mit dem eben gewählten Mitterrand-Nachfolger Jaques Chirac. Ein Kranz
wird niedergelegt, dann werden die Fahnen der beteiligten Staaten auf Jeeps
vorbeigefahren. Die deutsche mag nicht flattern. Sie ist ob der vielen
Fransen viel zu schwer.
BERLIN. STAATSAKT.
Am Abend lädt der deutsche Bundespräsident ein. Doch de facto
ist es Kohls Party: Der Kanzler und Frau Hannelore bauen sich vor den imposanten
Schinkel-Säulen des Berliner Konzerthauses auf, um die hohen Gäste
zu begrüßen: Rußlands Premier Viktor Tschernomyrdin, John
Major, Fran?ois Mitterrand und der US-Vizepräsident Al Gore. Kohl
ist gern unter Siegern.
Es ist nicht Londons lässiger Empire-Glanz, nicht der kolossale
Akt von Paris, auch nicht der trotzige, von Panzerketten untermalte Jubel
der demoralisierten Russen, der am nächsten Tag folgen wird. Der Ablauf
ist stockender als in London und Paris, Al Gores Kolonne prescht versehentlich
vorbei. Die Polizisten sind verwirrt. Und natürlich fängt es
an zu nieseln.
Eine kleine Feier mit schönem Beethoven, ohne viel Volk. Roman
Herzog redet von der „Chance des 8. Mai“. Die Gäste stellen keine
bösen Fragen, blicken in die Zukunft, loben das Land und seinen Kohl,
dem, sagt Al Gore, „Deutschland und Europa so viel verdanken“. Eine Konfirmationsfeier
für die Bundesrepublik: Nun seid ihr Deutschen erwachsene Demokraten,
scheinen sie alle sagen zu wollen, unseren Segen habt ihr. „Das war eine
schöne Feier“, sagt Roman Herzog hinterher, „und nun bin ich froh,
daß die ganze Feierei vorbei ist.“
Helmut Kohl sitzt in der ersten Reihe und glüht wie ein Geburtstagskind.
Aufgekratzt wippt er zur Musik. Mit infantiler, fast trotziger Begeisterung
klatscht er Beifall, mit ausladender Bewegung die Handflächen zusammenschlagend,
als wolle er übergroße Fliegen erschlagen. Zufrieden streckt
er sich aus und rutscht dabei fast vom Stuhl. Der Kanzler im 13. Jahr will
endlich Staat machen. Die Scham ist vorbei.
DIENSTAG, 9. MAI
MOSKAU. SCHLUSSAKT.
Mit etwas Geduld“, sagt Kohls „Bild“-Horoskop, „erreichen Sie heute
Ihr Ziel.“ Moskau ist in nationalen Farben geschmückt. Gekonnt meidet
der Kanzler die große Militärparade – indem er erst um 13 Uhr
in Moskau eintrifft. Beim Gespräch mit Jelzin kommt Weltpolitiker
Kohl auf die Nato-Erweiterung, die umkämpfte Rückgabe deutscher
Kulturgüter, den Krieg in Jugoslawien und die Lieferung von Atomreaktoren
an den Iran zu sprechen. Beim Thema Tschetschenien wird er mit der russischen
Standarderklärung abgespeist: Die militärischen Operationen seien
nahezu abgeschlossen, die Truppen des Innenministeriums würden übernehmen,
der Wiederaufbau bald beginnen. Kohl spricht von einer Belastung, aber
er droht nicht. Das Gespräch, läßt er verlautbaren, sei
„sehr freundschaftlich“ gewesen.
Am Abend im Kreml kommt Helmut Kohl zum ersten Mal offiziell zu Wort,
knapp fünf Minuten. Er erinnert „an das millionenfache Unglück,
das Hitlers Krieg über die Russen und die anderen Völker der
Sowjetunion gebracht hat“. Und gleich darauf, fast zwanghaft, „auch an
Millionen von Vertriebenen und Flüchtlingen, besonders in meinem eigenen
Land“. Aber die Worte sind wohl zweitrangig. Helmut Kohl hat Stimmung verbreitet,
er hat in den letzten 72 Stunden Bilder produziert, die Geschichtsbücher
schmücken können. Kohl verneigt sich vor der Queen, Kohl knetet
John Majors Arm, Kohl geleitet Fran?ois Mitterrand über den roten
Teppich, Kohl drückt Freund Boris Jelzin fest die Pranke. Kohl trifft
Bill Clinton – und wird von Tipper Gore, der Gattin des US-Vizepräsidenten,
stürmisch umarmt. Er mußte nirgendwo auf die Knie sinken. Er
steht aufrecht da, eingehüllt in den Mantel der Geschichte.
Und selbst in Moskau findet Kohl noch Zeit für ein kurzes Bad im
Volk. Er eilt auf den Friedhof Lublino, um am hinterem Ende, in einem kleinen
Areal für gefallene deutsche Soldaten, einen Kranz niederzulegen.
Die Friedhofsbesucher umdrängen ihn, klatschen, schenken ihm Blumen,
rufen „Hallo, Herr Kohl“ und „Freundschaft, Freundschaft“. Ein evangelischer
und ein katholischer Geistlicher halten kurze Ansprachen, danken Gott,
daß er „auch unser Volk wieder gesegnet hat“. Der Kanzler betet ein
Vaterunser, studiert dann die Namen auf den schlichten grauen Steinkreuzen.
Im frisch geharkten Friedhofssand hinterläßt er einen tiefen
Eindruck.
————————————————————————————————
©
Schimmeck |