Der Löwe um die Ecke

Lange Jahre war Forschung mit Halluzinogenen tabu - jetzt trauen sich die Forscher wieder - um die Psyche des Menschen genauer zu erkunden

1996 
von Tom Schimmeck 

Dr. Dr. Manfred Spitzer war ein bißchen aufgeregt. Gerade hatte der Heidelberger Psychiater ein Standardwerk über Halluzinationen fertiggestellt. Zum ersten Mal sollte er nun, per Selbstversuch mit der Droge Meskalin, selbst so einen Zustand erleben. Stimmt das alles, was ich da geschrieben habe?, sorgte er sich. Als der Stoff zu wirken begann, war Spitzer beinahe erleichtert. Die Empfindungen, die Bilder, schienen aus seiner Beschäftigung mit psychisch Kranken sehr vertraut: "Ich hab' mich da sofort zurechtgefunden." 

Schon vor über 100 Jahren begannen Ärzte, mit Hilfe von Drogen "künstliche Geistesstörungen" zu erzeugen und diese zu untersuchen. US-Forscher berichten 1892 zum ersten Mal von Experimenten mit Peyote, einem Kaktusextrakt, der in Mexiko seit über 2000 Jahren bekannt ist. 

Doch vor 30 Jahren wurde der Experimentierfreude ein politischer Riegel vorgeschoben: Die Hippie-Bewegung erklärte Halluzinogene, vor allem LSD, zur Waffe spiritueller Befreiung. Timothy Leary, Psychologie-Dozent an der altehrwürdigen Harvard Universität, wurde zum wortgewaltigsten Propagandisten der Selbstbefreiung durch die Droge. Er verhieß seinen Studenten ein runderneuertes Bewußtsein und predigte, jeder möge fortan "sein eigener Buddha sein". Auch Knastinsassen verabreichte Leary LSD - um ihre Selbsteinsicht zu fördern. 

"Der Forschung", sagt der Heidelberger Psychiater Spitzer, "hat der LSD-Prophet einen furchtbaren Bärendienst erwiesen." Denn die Politik reagierte auf Learys provokantes Auftreten mit Panik. Auf Druck der USA setzte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) diese Stoffe 1966 mit harten Drogen wie Opium und Kokain gleich. Leary (er starb dieses Jahr im Alter von 75 Jahren) mußte wegen Verstosses gegen das Drogengesetz wiederholt ins Gefängnis. Drogenforschung war für lange Zeit tabu. 

Erst heute wagen es wieder Wissenschaftler, die alte Fährte aufzunehmen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) bewilligte vergangenes Jahr ein Projekt, das die Wirkung der Drogen Psilocybin, MDE und Methamphetamin untersucht. Eine sorgfältig ausgesuchte Gruppe von Testpersonen - Ärzte, Psychotherapeuten und Pharmazeuten - sollen am eigenen Leibe die "dynamische Entgleisung vom Normalzustand zum psychotischen Zustand" erleben, formulierten die Antragsteller aus Aachen, Tübingen und Heidelberg. 

Dahinter steckt die Idee der "Modellpsychose", die vermutete Ähnlichkeit der Wahrnehmung bei bestimmten psychischen Erkrankungen und unter akuter Drogeneinwirkung. Die Idee kam schon 1920 dem Heidelberger Psychiater Kurt Beringer, als er die "grundsätzliche Rauschgestaltung" von Meskalin zu erforschen begann. Seine Versuchspersonen waren Ärzte und Studenten, aber auch, so listete Beringer auf, "1 Philologe, 1 Maler, 1 Zoologe und 2 Juristen". Ihnen verabreichte er frische und getrocknete Peyote-Kakteen aus Mexiko. Probleme gab es mit der Dosierung: Manche Probanden erbrachen, andere klagten über Atembeklemmungen, einige hatten "ernsthafte Selbstvernichtungsideen". Doch anders als Beringers nervenkranke Patienten konnten die Versuchspersonen ihre Erlebnisse genau beobachten und schildern. 

Beringers heutige Nachfahren dosieren vorsichtiger und haben weit bessere Beobachtungstechniken zur Hand. Neben den Beschreibungen durch die Versuchspersonen gibt es eine Fülle standardisierter Psycho-Tests und biochemischer Kontrollen. Der am Forschungsprojekt beteiligte Pharmakologieprofessor Karl-Artur, erfahren mit klassischen Halluzinogenen (LSD, Psilocybin, Meskalin) wie mit Designerdrogen ("Ecstasy, "Eve"), hat als einziger Wissenschaftler in Deutschland Die Genehmigung der Bundesopiumstelle, psychoaktive Substanzen selber herzustellen. Mit Hilfe von "Computer Aided Drug Design" kann er auch neue Drogen "bauen". 

Neue Einsichten liefert besonders die Beobachtung am PET-Scan: Ein radioaktives Kontrastmittel macht sichtbar, wo das Hirn bei welcher Gedankenoperation arbeitet. Ein Testsatz läßt bei den Probanden die grauen Zellen stolpern: "Heute morgen gab es Brot, Butter und U-Boote". Die "U-Boote" setzen ein Potential frei - auf dem Schirm als Farbveränderung erkennbar wird. 

"Das derzeitige politische und intellektuelle Klima", so heißt es auch in einer Veröffentlichung des Heffter Research Institut in New Mexico, eröffne "neue Wege der Forschung", die in der Vergangenheit "extrem schwierig" zu beschreiten gewesen seien. Die 1993 gegründete Forschungseinrichtung zur Erkundung psychedelischer Drogen wurde nach dem Leipziger Pharmakologen und Meskalin-Entdecker Artur Heffter benannt. 

Experimente mit Rauschdrogen, so argumentiert die Forschergemeinde, erfüllten eine Vielzahl unterschiedlicher Zwecke: 

  • Sie machen psychische Krankheitsbilder sinnlich und womöglich auch biochemisch nachvollziehbar; 
  • Sie geben Aufschluß über die Wirkung der Drogen - auch von Modedrogen wie "Ecstasy"; 
  • Sie helfen, Hirnfunktionen des Menschen zu entschlüsseln; 
  • Sie könnten den Weg zu neuen Therapien für psychisch Kranke weisen. 
Der therapeutische Einsatz der Drogen ist dabei der heikelste und umstrittenste Komplex. Halluzinogene, sagen die Befürworter, wirkten wie Klöbürsten für die Seele: Sie holten verdrängte Trauer und andere Emotionen wieder aus dem Unterbewußtsein hervor - und machten sie so erfahr- und behandelbar. Dies eröffne neue Chancen für die Behandlung von Patienten mit Zwangstörungen, Depressionen und Ängsten. 

In Baltimore wird bereits die Behandlung von Heroin-, Opium-, und Alkoholabhängigen mit LSD getestet. Andere US-Forscher experimentieren mit der Behandlung psychischer und seelischer Schmerzen von Krebspatienten durch MDMA. Schon Anfang der 80er Jahre verabreichte man in Kalifornien und Neu Mexiko Paaren, die einander besser verstehen wollten, "Ecstasy". Die Psychotherapeuten schildern den Erfolg in den leuchtendsten Farben: Die Patienten hätten mehr Selbstbewußtsein, Kontrolle und Unabhängigkeit gewonnen und gelernt, mit negativen Erfahrungen umzugehen. 

Gegner fürchten ein Comeback der 60er Jahre. Programme mit so gefährlichen Substanzen, fürchten sie, könnten schnell aus dem Ruder laufen. In der Schweiz zum Beispiel bekamen fünf Psychotherapeuten und Ärzte Mitte der Achtziger Jahre von der Regierung grünes Licht für den Einsatz von LSD und MDMA in der Behandlung von Patienten und auch im Selbstversuch. Die Psychiater trafen sich zu gemeinsamen Drogenexperimenten an Wochenenden, zum Teil in Partnerbegleitung. Sie schrieben Tagebücher und tauschten diese aus. Bald herrschte Zwist und Chaos unter den Behandlern: "Wir reagierten mit Trennung, Unterdrückung und Isolation der Angst und dies zwang uns in die Sturheit von Machtspielen, verursacht durch unsere verschiedenen theoretischen Ansichten, Zugänge und Erfahrungen", berichtet der Baseler Psychiater Juraj Styk. 

Als im Sommer 1990 einer der 100 an der Schweizer Studie beteiligten Patienten starb, entzog die Regierung die Sondererlaubnis. Später stellte sich heraus, daß der Todesfall nicht durch die Halluzinogen-Behandlung verursacht war - die Arbeit konnte unter schärfer gefaßten Konditionen weitergeführt werden. Doch Ende 1993 siegte erneut der Zweifel: der Staat verbot die Experimente erneut. 

Die deutschen Forscher treten von vornherein behutsam auf. "Die Forschung muß absolut risikolos für Patienten sein," sagt der Pharmakologe Kovar. Deshalb werden in die Aachener Versuche nur gesunde Testpersonen einbezogen. Selbstversuche lehnt Kovar für sich ab, um die Wissenschaftlichkeit seiner Studien nicht durch eine subjektive Einflüsse zu gefährden. Der Objektivierung dienen auch Doppelblindversuche: Testpersonen und Ärzte wissen nicht, wer welche Substanz bekommt. "Wir haben Fälle gehabt, wo Leute, die berufliche Erfahrungen mit Halluzinogenen hatten, glaubten, die Droge bekommen zu haben," erzählt Kovar, "dabei war es nur ein Placebo." 

Teil des in Aachen durchgeführten Projekts ist ein Experiment, mit dem die Forscher "formalen Denkstörungen" auf die Spur kommen wollen. Unter Drogen stehende Testpersonen bekommen am Computer ein Wort vorgegebenen und müssen bei einer dann folgenden Buchstabenkette schnell entscheiden, ob dies ein Wort ist oder nicht. 

Erste Erfahrungen zeigen: Der Verwandtschaftgrad der Wörter beeinflußt das Tempo der Entscheidung. Käse-Wolke dauert länger als Himmel-Wolke. Dahinter steckt vermutlich eine "semantische Voraktivierung" oder "Bahnung". Die Theorie lautet: Semantische Informationen sind nicht alphabetisch oder wild durcheinander gespeichert, sondern in Netzen. Wenn ein Mensch etwas sagen will, sucht er sich das passenden Wort aus seinem semantischen Netz. 

Die Forscher versuchen nun herauszufinden, wie groß der Bereich ist, der bei der Suche aktiviert wird und welche Faktoren diese Aktivierung beeinflussen. Angst etwa engt das Umfeld ein: Angst etwa engt offenbar das Umfeld ein: "Wenn der Löwe um die Ecke kommt", meint Spitzer, "wird punktgenau aktiviert." Ein Mensch in Panik kommt etwa beim Wort "Zitrone" kaum noch auf den Nachbarbegriff "sauer", während der durchschnittlich entspannte Normalmensch den Knoten "sauer" mitaktiviert. Durch Halluzinogene, so zeigt sich, wird der Bahnungseffekt stärker, die Aktivierung der Netzwerkknoten noch breiter. Probanden unter Psilocybin sind, so Spitzer, "in nullkommanix bei süß". 

Auch Schizophrene zeigen dieses breitere Assoziationsvermögen. "Wenn Ihnen sofort einfällt, was ein Tisch und ein Ehepaar gemeinsam haben, gehen sie besser zum Psychiater", meint Spitzer. Was haben die gemeinsam? "Vier Beine."  

© Schimmeck