Genschmans letzter Flug

Solo über der Wüste: FDP-Senior Hans-Dietrich Genscher versucht in seiner Heimat Sachsen-Anhalt den Absturz der Partei zu stoppen

1998 
von Tom Schimmeck 

Der Mann hat die Welt gesehen. Und nun sitzt er hier, im diesem Kerngebiet der Depression. Ein paar Senioren sind gekommen, einige mittelalte Männer, die furchtbar viel Zeit haben, auch zwei junge Mütter mit Kindern. Niemand stellt eine Frage. Die Zuhörer wirken erstarrt, verunsichert. Ihre Gesichter sind verschlossen. Ihr gedämpfter, höflicher Beifall am Schluß kommt fast überraschend. 

Staßfurt, ein Ostklischee: Bald 28 Prozent sind arbeitslos, von vier Großbetrieben ist ein halber übrig. Das Gasthaus heißt jetzt „Kaiserhof“, das Interieur aber geht noch den Bitterfelder Weg. An den Wänden graubraunes Holzimitat, Lampen aus der Vorvorwendezeit geben fahles Licht. Die ramponierten Girlanden, die den Raum durchkreuzen, retten auch nichts mehr. Und draußen nieselregnet es.

Das kann doch einen Genscher nicht erschüttern. Der Routinier entsteigt seiner schweren Bonner Limousine, als sei er am Weißen Haus vorgefahren. Die Lokalmatadoren geleiten ihn in den Saal, wirken froh und geschmeichelt, daß er da ist. Der Wahlkreiskandidat, der seine gequälte Erscheinung mit einem hellen Sakko zu neutralisieren versucht, preist ihn als „Garanten für den durchlebten Liberalismus“. Der Mann ist rhetorisch und überhaupt voll in Form. Das zarte Pflänzchen der hiesigen Wirtschaft, deklamiert er, „gießen wir, wenn kein Wasser da ist, mit unsrem eigenen Schweiß“. Der Satz wird noch besser, wenn man erfährt, daß hier der Geschäftsführer des örtlichen Mineralwasserbrunnens spricht.

Genscher dankt, indem er für einige Minuten zu einem von ihnen wird: Der Hans-Dietrich aus Halle, der in die Welt auszog, um die Volksparteien das Fürchten zu lehren. Nun ist er als guter reicher Onkel heimgekehrt, um ihr Ego zu schienen, ihren Stolz zu päppeln, ihnen zu verkünden, daß sie ja auch gearbeitet haben und nicht mit leeren Händen ins vereinte Deutschland kamen, sondern „mit dem Kostbarsten“ -- der „selbst und friedlich errungenen Freiheit“. Kein anderer Bonner Altstar kann hier so schön mit dem Pfund der Herkunft wuchern, so hübsch mit Possesivpronomen operieren: „Unser Sachsen-Anhalt“, ruft Genscher den ganzen Tag, „soll wieder Spitze werden“. Im Nu hat er den tristen „Kaiserhof“ mit wuchtigen Wortbrocken vollgestellt: „Vertrauen“, „Ausdauer“ und „Respekt“ stehen jetzt im Raum, „Politik für die Menschen“, „Freiheit und Verantwortung“ und ein pralles sachsen-anhaltinisches Wir, das mindestens bis zu Martin Luther reicht.

Wozu die Mühe? Ist es Loyalität oder Bettflucht? Treibt ihn Patriotismus oder ein politischer Triebstau? Warum tut er sich das an? „Damit’s klappt. Das juckt mich schon.“, sagt das agile Fossil beim Frühstück in Halle, während er den zweiten Teller Erdbeeren vertilgt. „Ich will für mich überhaupt nichts. Ich will nur noch helfen.“

Ein Einsatz aus Liebe zur FDP also - der Partei, brummt der Ehrenvorsitzende, „der ich letztlich mein Leben gewidmet habe“. Und nebenbei fällt viel Lob ab. Immer wieder treten Bürger vor und danken ihm für die deutsche Einheit, bitten um Autogramme oder zücken die Kleinbildkamera. „Ich werde begrüßt, als ob ich noch Minister wäre“, sagt Genscher, 71, gebauchpinselt. „Die Leute hier haben immer gewußt: Das ist unser Mann.“

Doch Edelmut und Eitelkeit allein können fünf Dutzend Genscher-Auftritte im wilden Osten kaum hinreichend erklären. Kann es der Politjunkie schlicht nicht lassen? Hat Genscher gar Sorge, das Trio Gerhardt-Solms-Westerwelle, das in Bonn den Kurs bestimmt, könnte seine FDP durch zu enge Festlegungen und ein zu schmales Programm aufs Riff fahren? Genscher hat nie einen Hehl daraus gemacht, daß er gern alle Optionen offenhält. Etwas gestelzt sagt er: „Ich habe Partnerschaftsfähigkeit mit allen demokratischen Parteien als Prinzip immer bejaht.“

Der Mann kann lachen wie Ernie aus der Sesamstraße - ein kehliges Chchchch, das gar nicht zu einem elder statesman passen will. Er gefällt sich noch immer als Fuchs. Ist er tückisch? „Nein“, lächelt der Hallenser, „aber dem Wort listig würde ich allenfalls pflichtgemäß widersprechen.“ Doch wenn die Frage aufkommt, ob im turbulenten Frühjahr 1998 neue Konstellationen denkbar werden, wird der Profi sehr ernst und wach.. 

„Das Nachdenken über Koalitionsfragen ist Sache der Parteiführung“, sagt Genscher, der an beiden Machtwechseln der Nachkriegsgeschichte - 1969 und 1982 - maßgeblich beteiligt war. Die Koalition mit der SPD 1969, erinnert er, „brachte uns an den Rand der Existenz“. Auch der Wechsel von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl im Jahre 1982, den Genscher mit seinem Freund Lambsdorff inszenierten und gegen viel Widerstand in der eigenen Partei durchfochten, war kein Spaziergang: Der Sturz eines „hoch angesehen und hoch befähigten Regierungschefs“ habe nur funktioniert, „weil er wegen der Haltung der SPD aus der Sache heraus geboten war.“

Und heute? Die SPD steigt derzeit in luftige Höhen, mit ihrem grünen Wunschpartner jedoch geht es bergab. Könnte im Herbst womöglich wieder rotgelb aus der Mottenkiste steigen? „Bei den Avancen der SPD ist viel Taktik im Spiel“, meint Genscher, mancher Sozi nutze die FDP „zur Grünendisziplinierung“. Schon gut, aber wie steht seine Partei zu dieser strategischen Option? „Die FDP ist derzeit in einer Weise eingeordnet, die so etwas nicht leicht macht.“ 

Sehr fraglich, ob Genscher diese Einordnung gefällt. Er mahnt die Partei zu mehr thematischer Breite: „Gerade für eine liberale Partei ist es wichtig, Wäsche zu zeigen. Es wird nicht nur danach gewählt, wer den günstigsten Steuertarif hat.“ Vielleicht hat er auch deshalb neulich in Sachen Lauschangriff mit SPD, Grünen und PDS gegen die Regierungskoalition gestimmt. Genscher tut so, als habe ihn die Aufregung in der Union darüber verblüfft: „Die mußten wissen, daß da keine Beliebigkeit zu erwarten war.“ 

In Sachsen-Anhalt läßt er Bonn außen vor. Keine Silbe über Gerhard und Co, kein Wort zu Schröder oder Kohl. Der Kanzler taucht nur indirekt auf, wenn der Redner - immer wieder genüßlich - herausstreicht, daß er, Genscher, anno 1990 ja „keine großen Versprechungen gemacht“, sondern stets einen „langen, steinigen Weg“ prophezeit habe. Weshalb er ja „auch heute noch überall hinkommen kann“. 

So richtig abwatschen kann er den Koalitionspartner Kohl natürlich nicht. Als Feindbild dient ihm stattdessen die Bayerische Regierung, die vom Osten nicht nur „Dankbarkeit“ fordert und obendrein nicht mehr zahlen will. Die Banken kriegen Contra, speziell die Deutsche Bank: Wenn die mit ihren Krediten für Mittelständler großzügiger wären, witzelt Genscher, wäre so mancher hier „längst aus dem Schneider“.  Auch die Grünen müssen Prügel einstecken --- das ist jetzt offizielle Parteistrategie und derzeit obendrein besonders einfach. Die Grünen, höhnt Genscher, seien „Leute, die nie im Arbeitsleben gestanden haben“, deren Ziel „ein pausenfreier Übergang vom Bafög zu den Abgeordnetendiäten“ sei. Der viel zitierte grüne Spritpreis bietet ihm gar Gelegenheit, sich als Anwalt der kleinen Leute gegen eine grüne Privilegierung der Reichen aufzuspielen.

Es geht um viel für die FDP. Seit 1994 ist sie bei zwölf Landtagswahlen gescheitert, nur in vier deutschen Landesparlamenten überhaupt noch vertreten - in Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein. Die Partei, die in Bonn nächstes Jahr ihr dreißigstes Regierungsjubiläum feiern könnte, lechzt nach Erfolg, gerät strategisch in die Klemme. Schon hat sich Parteichef Gerhardt laut überlegt, lieber in die Opposion zu gehen, wenn es im Herbst mit Kohl nicht klappt - lieber tot als rot. Sein Vize Brüderle, in Rheinland-Pfalz mit der SPD verbandelt, ruft derweil zur Bildung neuer sozialliberaler Koalitionen in den Ländern auf. 

Verzweifelt versuchen sich die Bonner als „Motor in der Koalition“ zu präsentieren, als wahren Antreiber von Reformen. Das Bild der kalten Partei der Besserverdiener soll korrigiert, das Steuerthema, inzwischen Hauptschlachtfeld der FDP, mit menschlichen anmutenden Formeln umrankt werden. Den Osten scheinen sie längst als No-win-Territorium abgeschrieben zu haben. Zumal Erfolge, die Bundesliberale heutzutage stolz machen - die Kürzung des Solizuschlages etwa oder die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten - dort besonders wenig Eindruck schinden. Im Osten ist die FDP seit 1994 mit Ergebnissen zwischen 1,7 und 3,8 Prozent Apo pur. Der Absturz in Sachsen-Anhalt fiel besonders schmerzhaft aus. Im Einheitsjubel 1990 kam die Genscher-FDP hier auf satte 13,5 Prozent, bei den Wahlen zum Bundestag gar auf 19,7 Prozent. Vier Jahre später brachen die Liberalos in Magdeburg brutal ein: auf 3,6 Prozent. Und jetzt, klagt die FDP-Vorsitzende in Staßfurt, als die Granden schon abgereist sind, würde sie in ihrem Autohaus gar „offen angegriffen“: „Die wählen alle SPD oder PDS.“

Doch Genscher gibt sich optimistisch, daß seine Partei das Comeback schaffen wird. Stolz zeigt der „Minister im Unruhestand“ („Mitteldeutsche Zeitung“) seinen dicken, dicht gedrängten Terminkalender, ein gehefteter Zettelberg, den er in der unteren linken Innentasche des Jacketts verwahrt. Als wolle er sagen: Ich wenigstens habe alles versucht. Genschers kleiner Troß soll auf seinem Weg durch Industrieruinen Sachsen-Anhalts vor allem Zuversicht spenden. Und so preist der Alte unermüdlich die „neuen Gesichter“, das „neue Denken“ und den „frischen Wind“ aus seiner Partei. Unentwegt verbürgt er sich für die Spitzenkandidatin Cornelia Pieper, 39, die forsche Landesvorsitzende, die Genscher im vergangenen Jahr auch als Bundesvize lancieren konnte. Auch der Zweite im Team wird permanent gelobt, obwohl er etwa so neu ist wie Peter Alexander: Horst Rehberger, ein Ex-Wirtschaftsminister, der 1994 im Strudel der Magdeburger Gehälteraffäre mit der damaligen CDU/FDP-Regierung unterging. Der ölige Lächler bricht in jedem zweiten Dorf fast in Tränen aus, weil er eine Umgehungsstraße vermißt.

Er scheut sich nicht einmal, die Kandidatin Pieper auf Blair-Niveau zu heben: „Wir brauchen keinen Tony“, reimte er zum Wahlkampfauftakt, „wir haben unsere Conny“. Das Genscher-Girl, diplomierte Sprachmittlerin für Polnisch und Russisch, hoft auf eine nachösterliche „Wiedergeburt“, die „zum lang ersehnten Wendepunkt für Sachsen-Anhalt und für die FDP im Osten“ werden soll. Für die rot-grüne, von der PDS geduldete Koalition des Reinhard Höppner hat Frau Pieper viele böse Worte parat. Und doch würde sie wohl sofort mit der SPD koalieren, wenn die Chance käme. Zumal der Wunschpartner CDU schlaftrunken scheint und sich, so schimpfen die FDPler, „schon als Juniorpartner der SPD sieht“. Also läßt der FDP-Slogan, ganz Genscher-like, alles offen: „Höppner, wir kommen“ kann man auch als Freudenschrei verstehen.
 

© Schimmeck