"Ach, sie sind Ausländer..."

Vielen Immigranten in Deutschland erscheint die Möglichkeit zur doppelten Staatsbürgerschaft als späte Anerkennung ihrer Wirklichkeit


von Tom Schimmeck 

Der Fernseher zeigt Fußfall, daneben hängen ein paar Spielautomaten. Kemal Atatürk blickt streng von der Wand. Im Sportclub S.V. Türkiyem 89 in Hamburger Stadtteil Ottensen sitzen am frühen Abend rund drei Dutzend Männer spielen Karten und Okey, eine Art Domino. Man trinkt Tee.

Was sie sind? Türken? Deutsche? Deutsch-Türken? "Ich fühle mich eher als Deutscher, so etwa 75 Prozent", sagt Yeener Erol, 52. Seit 30 Jahren lebt der Schlosser hier, hat immer gearbeitet, immer Steuern bezahlt. Aber auf dem Papier ist er immer noch Türke pur. Auch seine drei Kinder - zwei sind hier geboren - haben türkische Pässe.

"In der Türkei bin ich ein Fremder - und hier auch", meint Akar Kenan, 52. Er hat 26 Jahre auf einer Hamburger Werft geschuftet. Dann war sein Rücken kaputt, einen Herzinfarkt hatte er auch. Jetzt ist er schwerbeschädigt, ein Frührentner.

"Es geht um Gerechtigkeit", findet Süleyman Kayhan, 53, Walztechniker von Beruf und seit 20 Jahren Mitglied der deutschen SPD. "Die Deutschen, was sind das für Europäer?", fragt er empört. "Wir sind in der NATO. Und Zollfreiheit ist auch kein Problem, weil sie uns was verkaufen wollen. Aber die Staatsbürgerschaft? Nein."

Warum sie unter sich bleiben? Es ist die Zeit des Ramadan. Und in den deutschen Kneipen fließe nur Alkohol, sagen sie. Aber das ist es nicht allein. Da ist auch verletzter Stolz im Spiel. Deutschland hat sie einst geholt, um hier zu arbeiten. Aber es läßt die "Gastarbeiter" auch nach drei Jahrzehnten noch fast täglich spüren, daß sie nicht dazugehören, nicht wirklich willkommen sind. Sie fühlen sich als Bürger zweiter Klasse, zurückgesetzt, abgedrängt.

"Man hat uns Ausländer in die Ecke geschoben, ghettoisiert", sagt Herr Kayhan. Wenn sie zum Amt oder zur Krankenkasse gehen, eine Arbeit oder eine Wohnung suchen, passiert es immer wieder, daß man ihnen sagt: "Ach, sie sind Ausländer...". "Das war hier ein Knast für uns", sagt der Frührentner Kenan und spielt mit seiner Gebetskette. "Wohin Du auch gehst, bist Du Ausländer. Schwarze Haare, Kanacke, Schluß." Herr Erol hat neulich einen Autounfall gehabt: "Als der Polizist meinen türkischen Paß sah, sagte er: ‚Du mußt warten, erst kommt der Deutsche dran.'"

Je länger sie erzählen, desto zorniger werden sie. Was ist für ein verstaubter völkischer Staatsbürger-Begriff, dem Deutschland bis heute frönt? "Das mit dem Blut, das kommt doch von den Nazis", sagt einer der Mitspieler. Sie haben genau registriert, das in den letzten Jahren viele andere eingewandert sind - aus Rußland, Rumänien und anderen Ländern - die den Deutschen als "Aussiedler" galten und im Nu Arbeitslosengeld und Rente bekamen. "Die haben sofort einen Paß bekommen, weil ihre Ururgroßmutter deutsch war", meint ein anderer in der Runde. "Aber wir bleiben immer draußen. Dabei hat selbst Helmut Kohl eine türkische Schwiegertochter."

Vor allem psychologisch, glaubt man um die Ecke bei der Ausländerberatungsstelle der Arbeiterwohlfahrt, wird es einen gewichtigen Unterschied machen, wenn Deutschland die Doppelstaatsbürgerschaft zuließe: Es wäre ein Stück Anerkennung der Immigranten. "Nur gesund", sagt der Berater, wäre der Doppelpaß vor allem für die hier geborenen Kinder der Ausländer: "Er spiegelt einfach ihre Wirklichkeit, ihren Spagat. So können sie ihre Familie und ihr Hier-Geboren-Sein in Einklang bringen." Gerade bei traditionellen türkischen Familien birgt der Wechsel vom türkischen zum deutschen Paß viel Konfliktstoff.

Der andere Effekt: Deutschland müsse zu seinen Immigranten stehen, mehr Verantwortung für sie übernehmen, glaubt der Berater. "Einen Fall Mehmet dürfte es dann nicht mehr geben." Der Fall des minderjährigen Türken aus München, der mitsamt den Eltern abgeschoben werden sollte, nachdem er straffällig geworden war, hatte in Deutschland im vergangenen Jahr beträchtliche Wellen geschlagen.

Nein, ein Stück Papier allein, wissen die Männer im Sportclub Türkiyem, werde nichts daran ändern, daß sie die schlechteren Jobs machen, in den schlechteren Wohnungen leben und deutlich schneller von Entlassungen betroffen sind als die Deutschen. Ein Paß sei auch keine Garantie gegen Mißgunst und Übergriffe, meint Herr Kayhan bitter. "Die Juden hatten auch einen deutschen Paß." Hinzukommen müsse ein Antidiskriminierungsgesetz, das den Immigranten eine rechtliche Handhabe gebe, sich gegen Zurücksetzungen zu wehren.

Und doch hoffen sie, daß der deutsche Paß ihnen und ihren Kindern und Enkeln ein bißchen mehr Gleichberechtigung bringen wird. Daß ihre Stimme, wie Herr Erol bescheiden sagt, "ein bißchen mehr gehört wird", weil sie endlich wählen können. Warum haben sie sich dann nicht längst einbürgern lassen? Er mochte nicht um den deutschen Paß bitten, sagt Herr Kayhan. Aber wenn man ihm einen anböte, nehme er ihn gerne. Und eigentlich müßten die Deutschen dazu sagen: "Entschuldigt, wir haben euch schlecht behandelt." Ja, die drei Männer würden alle von der doppelten Staatsbürgerschaft Gebrauch machen.

Nur Ferdi Yelkem, ein 20jähriger, der die ganze Zeit zugehört hat, will partout keinen deutschen Paß: "Der interessiert mich nicht." Irgendwann, sagt er, wolle er für immer in die Türkei gehen. Auch wenn manche Freunde sagen, daß man da nicht leben kann. "Sicher, hier hat man mehr Möglichkeiten", meint der junge Mann, "und von Rentenversicherung haben viele in der Türkei noch nie etwas gehört."

© Schimmeck