Die Nordstadt winkt ab

Nahaufnahme Dortmund-Nordstadt: Im Armenghetto dreht sich das Leben in Kreis. Und Politik ist fast so fern wie der Mond


von Tom Schimmeck 

Morgens um halb sieben, wenn Rainer Tschöpe das Gitter vor seinem Kiosk hochwuchtet und die Langnese-Fahne hißt, geht es noch beschaulich zu auf der Nordstraße. Die Penner, die den Flecken Grün links die Straße hoch im Griff haben, sind noch nicht da. Und auch für die Prostituierten, die später rechts runter Stellung beziehen werden, ist es noch keine gute Zeit. So früh kommen nur die Nachbarn, die aus "Bild" erfahren wollen, was der Baby-Quäler trieb, daß Berti bleibt und Möllemann wieder Fallschirm gesprungen ist. Rainer will das nicht wissen. "Komisch", sagt er, "jeder sagt, daß Bild lügt und nur Mist schreibt, aber lesen tun sie's alle."

Er ist ein aufgeräumter Typ, späte dreißig, mit Bärtchen und einem blassen Teint. Kein Wunder. Der Kiosk, "die Bude", wie sie in Dortmund sagen, hat täglich sechzehneinhalb Stunden geöffnet, sieben Tage die Woche. Inhaberin Karola, seine Freundin, muß noch anderswo Geld verdienen. Alles ruhig. Rainer zieht sich in sein kleines Separée hinter den Kühlschränken zurück, um Zwiesprache mit der Kaffeekanne zu halten, starrt mit klitzekleinen Augen auf die Wiederholung der Presseschau. "Jaja", brummt er, "Arbeitslosigkeit, Aufschwung, das übliche."

Das Panorama, das Rainer durch das Ladenfenster sieht, ist auch nicht prickelnd. Gegenüber die Kneipe "Zum Würfel", der griechische "Nord-Grill", das Studentenlokal "Gypsy" und zwei große grüne Mülltonnen. Am interessantesten wirkt das "Freundschaftshaus Balkanischer Völker e.V.", vor dem fast immer jemand steht, der energisch in sein Handy spricht, als gelte es, Richard Holbroke auf seine Seite zu ziehen.

Der Fensterausschnitt der Bude ist wie eine Guckkastenbühne. Gegeben wird jeden Tag Dortmunder Nordstadt: Rentner und Kinder, Arbeitende und Ziellose treten auf und schnell wieder ab. Hin und wieder kommt mal jemand rein, um seinen Durst zu stillen, sich Zigaretten, Zucker oder eine Telefonkarte zu holen. Die Kinder kaufen Eis und Mäusespeck, dieses Zeug, das schmeckt wie gezuckerte Schaumstoffmatraze.

Die Straße ist sauber. Der Straßenfeger kam eben vorbei, gefolgt von dem großen orangen Auto mit den Bürsten. Die Sonne scheint heute, der Himmel ist blau und der Balkan gegenüber noch ruhig. Aber Karola und Rainer wollen aufgeben, sich woanders etwas suchen. Die Kundschaft, egal welcher Herkunft, ist knapp bei Kasse, lebt von Arbeitslosengeld, Sozialhilfe und kleinen Renten. Das Verhältnis von Ausländern und Deutschen verschiebt sich immer mehr. "Vor zwei Jahren war es noch Hälfte-Hälfte", sagt Karola, "jetzt ist es 80:20." Familien ziehen fort, weil sie die Kinder nicht auf die Straße lassen mögen. Auf den Spielplätzen liegen Spritzen rum, die Mädchen werden angemacht. Gegenüber von der Bude gab es kürzlich eine Schießerei. "Neulich kam einer rein und hat mir eine Kalaschnikow angeboten, für 1000 Mark", sagt Rainer.

"Hier wohnt viel mieses Volk", sagt Jörg, der gerade Zigaretten holt. Die Art, wie er das sagt, klingt fast freundlich. Er hat Arbeit, seine Familie kommt ganz gut klar. Aber neulich, erzählt er, hätten ein paar Halbwüchsige auf dem Spielplatz versucht, Geld von seinem "Kurzen", dem 14jährigen Sohn zu erpressen. Jörg ist gleich hingegangen und hat sich die guten deutschen Jungs zeigen lassen. Dann gab es wohl ein paar Ohrfeigen. "Die haben ziemlich sparsam geguckt. Gestern hat sogar einer gegrüßt. Mein Umfeld forme ich mir so, wie ich's brauche".

So bringen sie alle ihre Geschichten in die Bude, meist Geschichten, die sich im Kreise drehen, oder in einer Art Abwärtsspirale: Kinder-Trennung-Strich, Arbeitslos-Obdachlos-Suff. Man muß sich nur das junge Mädchen anschauen, das mit Hotpants und hochhackigen Stiefeln vor dem Kiosk entlangtaumelt. Sie hat schon mindestens drei Flachmänner intus. Und jetzt kommt sie mit vier Kerlen im Schlepptau rein und verlangt Kondome. "Irgendwie muß man seinen Suff ja finanzieren", sagt Rainer, schüttelt sich und reißt schnell einen dieser Buden-Witz, die den Abgrund ein bißchen flacher machen: "Trinken Sie viel? Nee, das meiste verschütt' ich eigentlich."

Manche sind zornig oder bitter. Manche versuchen, das Positive zu sehen. Die Studenten loben die vielen Kneipen. Die Alten tauchen in die Vergangenheit. "Wir sind die Krone des Ruhrpotts", sagt Wolfgang, ein Ex-Koch, und beschwört eine rustikale Form von Liberalität. Hier werde "keiner schräg angeguckt, wenn er arbeitslos ist oder so. Anderswo machen sie da lange Zähne."

Der Alte spottet über "die Feinfühligen", die längst weggezogen seien. Aber irgendwie nagt die Nordstadt auch an ihm. Vor allem, wenn er zusieht, wie die Jüngeren leerlaufen. "Ich habe als junger Mensch viel mehr Chancen gehabt, obwohl es 'ne schlimme Zeit war nach 45". Er will sich jetzt selber "abseilen". Nur daß das gar nicht so einfach ist. Wenn man beim Wohnungsamt als Nordstädter nach einer anderen Gegend fragt, erzählt er, "sagen die nur: ,Um Gottes willen'"

Auch er benutzt das böse Wort: Ghetto. Ein Ort, den keiner so leicht verläßt. Ein Ort, der furchtbar weit entfernt ist von allen Sesseln, in denen Schicksale bestimmt werden. Politik? Wirtschaft? Das ist hier Lichtjahre entfernt. "Jaja", so ist das alles", sagt Gerda, 72, und schlenkert dazu mit der Einkaufstasche. "Die machen, was sie wollen".

Die meisten winken ab: Ruckartig, aus dem Ellenbogen heraus, als ob sie eine glitschige Bananenschale loswerden wollten. Parteien scheinen für sie gestorben zu sein. "Am Ende läuft doch alles auf's Geldverdienen hinaus", glaubt Gero, ein Facharbeiter. "Der Mensch ist doch eigentlich unwichtig." "Wir drehen nicht am großen Rad", sagt ein Rentner im Jogginganzug. "Wie denn auch? Mit ,Einigkeit macht stark'? Stand das nicht am Koppelschloß?" Nur Christoph, der traurige Pole, hält eine kleine Abschiedsrede auf Kohl und Kinkel. Und Helga, eine eher schüchterne Mittvierzigerin, die mit ihrem kleinen Hündchen Jessica hereintrippelt, will auf jeden Fall wählen gehen: "Eine kommunistische Partei", sagt sie unheilverkündend.

Dabei glänzt kaum einer durch flotte Fertigmeinungen, eher durch gute Fragen. "Vielleicht wird die Jugend nicht straff genug geführt? Aber das hatten wir dich schon mal", meint einer. "Und wenn sie straff geführt werden, haben sie kein Ich mehr." Selbst das Thema Ausländer, immer da, wird differenziert. Deutsche und Ausländer stehen sich nicht als homogene Blöcke gegenüber. "Es ist nicht die himmelblaue Integration, aber ein ganz freundliches Miteinander", findet Bernd, ein Student. "Sonst würde man auch irre."

Auch Karola und Rainer sind hinter ihrem Tresen nicht zu Rassisten geworden. Ihnen entgeht auch nicht die Komik, wenn zwei alteingesessene Brüder, die keine Türken mehr sein wollen, plötzlich auf die "Scheißkanacken" schimpfen, die "nicht mal richtig einparken können". Ob die CSU das unter Integration versteht?

Es ist eher diese ganze Gemengelage, die eine Art Grundgrimm erzeugt. Einfach zu viele hier, die arm dran sind. Und ein paar, die gut abstauben, in aller Regel nicht durch versteuerte Aktivitäten. "Mann", seufzt Anastasius, ein stämmiger Grieche, als draußen gerade ein chicer Türke mit seinem Mercedes Cabrio abhebt, "das ist schon sein viertes Auto." Rainer lacht nur. Viel später, abends um 11, holt endlich die Langnese-Fahne ein und läßt das Gitter herunter: "Tschüß. Für heute reicht's."

© Schimmeck