Satt & sauber

Auch Behinderte haben eine Sexulität. Doch vielen fällt es schwer, sie auch zu leben. Wege der Abhilfe - bis hin zum Sexservice – sind umstritten

1996 
von Tom Schimmeck 

Lars erinnert sich noch genau an das erste Mal danach. Sie hatten sich ein Hotelzimmer in der Nähe der Klinik genommen. Seine Freundin plätscherte in der Badewanne, er saß daneben. Sie tranken Schampus und alberten herum, halb froh, halb verunsichert. „Wir waren auch ein bißchen traurig, aber voll o.k.“, sagt Lars und steckt sich mit einer steifen, neu einstudierten Bewegung noch eine Zigarette in den Mund. 

Nach jenem Autounfall im Mai, der ihn binnen Sekunden zum Rollstuhlfahrer machte, gelähmt von der Brust abwärts, hatte er monatelang im Krankenhaus und in der Reha-Klinik gelegen - viel Zeit zum Verzagen. Natürlich sorgte er sich ums Geld, ums Wohnen und Arbeiten. Aber die größte Angst hatte er, wenn er an Liebe und Sex dachte. Seit vier Jahren war er mit seiner Freundin zusammen. Eigentlich wollten sie bald heiraten. Wie wird Sie es aufnehmen? Geht das überhaupt?, fragte er sich. Kann ich sie noch befriedigen? Wie stelle ich das an? „Da kommt man irgendwie ins Nichts“, sagt Lars. 

Natürlich soll alles „wie früher“ sein, „ganz normal“. Aber es ist anders. Er fühlt ganz anders, ist anders erregbar. Er ist, sagt er, „auf sie angewiesen“: Sie muß „die Führungsrolle übernehmen – ihm beim Ausziehen helfen, ein Katheter schieben. Sie muß ihn stimulieren. Denn es gibt keine funktionierende Leitung mehr, um die Erregung in seinem Kopf zu seinem Schwanz zu transportieren. Der steht nur noch, wenn er reflektorisch erregt wird. 

Nach Monaten also der erste Sexversuch in jenem Hotelzimmer. „Ich lag da im Bett flach wie ne Flunder. Es spielt sich im Kopf das Gleiche ab wie vorher. Aber man kann sich nicht so bewegen.“ Es war komisch: Das Glied wurde steif, aber er fühlte es nicht mehr. Sie haben miteinander geschlafen. „Meine Freundin war zufrieden“, strahlt Lars. 

Zwischendrin fragte er sich einmal: „Was mach’ ich da überhaupt?“ Danach war sehr erleichtert, daß es geklappt hat. „Wir haben gelacht und auch geweint.“ 

Leute wie Lars gelten als „Edelbehinderte“: Sozial integriert, mit fester Partnerschaft, finanziell halbwegs abgesichert, geistig fit und ohne Sprachprobleme. Was aber machen die, denen es schlechter geht, die nur ein Leben im Sechsbettzimmer kennen, deren Körper immer nur gewartet worden ist, abgewischt und hin und her geschoben? Was machen Menschen, die sich kaum bewegen oder nur schwer verständlich machen können, der sehr scheu oder schwer entstellt sind? 

Was macht zum Beispiel Karl-Heinz, ein spastisch gelähmter 44jähriger. Er ist charmant und hat Witz. Aber äußerlich ist er verdammt weit weg vom Schönheitsideal: Er windet sich, zuckt in seinem Rollstuhl, wirft den Kopf schräg nach hinten, rudert mit den Armen und krümmt die Beine. Anfangs versteht ihn ein ungeübtes Ohr sehr schlecht. 

Karl-Heinz kann nicht in die nächste Kneipe rollen und hoffen, dort eine Sexualpartnerin zu finden. In grauer Vorzeit war er mal verheiratet, aber die Ehe ging kaputt. Sie wollte immer in die Disco gehen, erzählt er, und mochte es kaum ertragen, daß er nicht tanzen kann. Seit vielen Jahren ist ihm sexuell nichts widerfahren. Er hat sich wohl bemüht, auch mit Kontaktanzeigen. Doch ohne Erfolg. 

Nun ist Karl-Heinz Kunde von „Sensis“, einem Wiesbadener Projekt, daß Sex für Schwerstbehinderte anbietet. Die Interessengemeinschaft für Behinderte (IfB), ein alteingesessener Betreuungsverein, hat im vergangenen Jahr als erster in Deutschland den Tabubruch beschlossen. Seit Oktober sind fünf Frauen und zwei Männer gelegentlich im Einsatz, um derzeit etwa 15 schwerstbehinderte Kunden im Rhein-Main-Gebiet sexuell zu betreuen. 

Seither wird Gudrun Greb, Leiterin des Miniprojekts, durch die Talkshows gereicht. Auch Karl-Heinz hatte schon mehr Mikrofon- als Körperkontakt. Von der Sunday Times bis zum ungarischen Rundfunk waren alle da. 

Der „Körperkontaktservice“, soll, sagt Frau Greb, „so normal wie möglich ablaufen.“ Doch zunächst einmal weckt er Neugier und Empörung. Daß ist den Initiatoren nur recht: Behinderten-Sex ist immer noch ein Tabuthema. Und das Tabu soll weg. 

Früher ward Sex für viele Behinderte schlicht gestrichen. Der katholische Prälat Briefs empfahl anno 1933 in seinem Standardwerk über „Krüppeltum und Familiengründung“ als „einzige Möglichkeit, die „Körperbehinderten mit ihrem Schicksal positiv zu versöhnen, eine Sublimierung des Triebes im Sinne des christlichen Zölibats“. Als Züchtigungsinstrumente dienten ihm schlichte Kleidung, harte Betten und „reizlose Kost“, dazu Gebete, Gedichte und Lieder. 

Das Mittelalter in den Behinderteinrichtungen geht zuende. Eine systematische Zerstörung jeglicher Intimsphäre, wie sie der Autor Ernst Klee noch vor 20 Jahren in seinem „Behindertenreport“ beklagte, ist seltener geworden. In vielen Einrichtungen hat jeder Behinderte sein Einzelzimmer, kann Besuch empfangen und über Nacht wegbleiben. Auch die Ära der getrennten, stets nach Putzmitteln duftenden Frauen- und Männertrakte geht allmählich zuende. Drakonische Strafen für körperliche Annäherung sind seltener geworden. 

Früher galt die Parole: „Hauptsache satt und sauber.“ Jetzt wird Sex zum Thema. Die Fachpresse ist voll von Erfahrungsberichten und Kommentaren, Behindertenzeitungen veröffentlichen bewegende Briefe und Gedichte. Zuweilen wird auch schon mal eine kleine Provokation in breiterer Öffentlichkeit gewagt. Die „Aktion Sorgenkind“ etwa ließ letztes Jahr eine Gratispostkarte drucken, die einen Mann im Rollstuhl zeigte, auf dem Schoß eine Frau in eindeutiger Position, die Beine über seine Schultern geschlagen. Der Text: „Ihre Spende ist für Edgar der Höhepunkt“. Die Karte, ohnehin nur in Szenekneipen ausgelegt, wurde nach heftigem Protest zurückgezogen. Auch der Verein fand den Text plötzlich „mißlungen“. 

Massenabfertigung gibt es gleichwohl noch immer. Stefan, ein junger Spastiker erinnert sich an sein Wohnheim: Die Männer wohnten oben, die Frauen unten. Wer sich zu stark anfreundete, wurde auch tagsüber in getrennte Gruppen gepackt.“ Die Körper vieler Heimbewohner, klagt Bärbel Mikler vom Hamburger Behinderten-Verein „Autonom Leben“, seien „immer noch öffentlich“. Da würden junge Frauen von ahnungslosen Zivis aufs Klo gebracht. Das schaffe Spannungen, ließe die Frauen „ihren Körper nur als wertlosen Gegenstand erleben“. 

Kaum besser sind die Erfahrungen außerhalb. Sogenannte normale Männer scheinen behinderte Frauen oft als Freiwild anzusehen. Eine blinde Frau erzählt, sie sei schon häufiger auf der Straße angesprochen worden: „Du hast doch bestimmt noch nie, ich würd’s auch mit Dir machen.“ Es gäbe, berichtet ein Sozialarbeiter, eine relgelrechte Szene von Männern, die auf beinamputierte Frauen abfährt. „Randgruppen ziehen Randgruppen an“, meint eine ältere Frau im Rollstuhl, „vor seelisch Behinderten hab’ ich am meisten Angst.“ 

Bei vielen Behinderten aber werden die Ängste und Obsessionen der Geschlechter wie durch ein Brennglas sichtbar. „Da gibt es nicht mehr viel zu verstecken“, sagt Harald Burgdörfer, Urologe im Hamburger Unfallkrankenhaus Boberg. „Da kommt viel prägnanter raus, wie Leute mit Sexualität umgehen.“ 

Wenn der Körper schmerzt und sich überhaupt ganz anders anfühlt, so schlaff daliegt oder so merkwürdig zuckt, brummt sein Inhaber nicht gerade vor Zuversicht. Am härtesten trifft die 50jährigen Manager und Handwerksmeister, Macher, die immer nach dem Motto gelebt haben: Man muß nur wollen. 

Ihr Leistungsstreß ist groß: Vor allem ist wichtig, daß im Schoß noch was passiert. Kann ich noch? ist ihre drängendste Frage. Wird „er“ stehen? Kann ich noch eine Frau befriedigen, Kinder kriegen? Burgdörfer hat es schon erlebt, daß ein Mann dies alles fragte, während er gerade aus dem Rettungshubschrauber getragen wurde. „Wenn der Penis nicht steht, sind die Kerle sofort da“, berichtet Burgdörfer. „Für manche ist es einfach wichtig zu penetrieren, selbst wenn sie mit einem Finger unter der Nase mehr erreichen könnten.“ 

Die Angst kippt schnell in harten Trotz um: „Was soll ich 'ne Frau anfassen, wenn ich nicht weiß, ob ich sie befriedigen kann, wenn der Punkt nicht auf's i kommt? Da schick ich sie lieber gleich weg.“ Zuweilen, beobachtet Martina Neikes, Psychologin im Boberger Querschnittszentrum, sei ein männlicher Patient ganz verblüfft, daß seine Frau bei ihm bleiben will. „Wer geliebt werden will“,weiß Peter Mand von der Zeitschrift „Paraplegiker“, „muß sich selbst lieben.“ 

Frauen sorgen sich eher um ihre Sinne. Die Patientinnen können sich oft nicht vorstellen, wie Sex ohne Gefühl im Genitalbereich funktionieren kann, wie sie im Rollstuhl noch jemand liebenswert finden kann. Manche, glaubt der Urologe zu beobachten, seien schlicht erleichtert, „nicht mehr antreten zu müssen“. 

Wenn ein Mensch mit normal funktionierendem Körper plötzlich gelähmt ist, hat er einen langen Weg vor sich: Vom ersten Schock über das Verdrängen, den Zorn, die Trauer, das Witze reißen bis zum Begreifen und damit leben. „Die Patienten kennen ihren Körper überhaupt nicht mehr“, beobachtet die Psychologin Neikes, „und vertrauen auch nicht mehr dem, was sie an ihm wahrnehmen.“ 

Im besten Fall hat er – wie Lars –einen Partner, mit dem er ein neues Leben ausprobieren kann, eine andere Aufteilung von Arbeit und Haushalt, und auch anderen Sex. Einige Behinderte sagen, sie hätten heute ein viel interessanteres Sexualleben, weil sie Rücksicht zu nehmen und neu zu fühlen gelernt haben. „Man nimmt unwahrscheinlich Rücksicht auf die Partnerin“, sagt Lars. 

Bei „Sensis“ sind die ersten Erfahrungen ähnlich: Männer äußern meist funktionelle Sorgen, die Frauen fragen eher: „Oh Gott, was macht der bloß mit mir?“ Bislang nutzen fast nur behinderte Männer den Service. Die Frauen fürchten oft, so hört es Gudrun Greb, „daß da jemand über mich wegrumpelt“. Oft behaupten sie, das Thema Sex sei für sie erledigt: „Kann ich nicht haben, will ich nicht haben.“ 

Sicher kommt es auch auf die Umstände an. „Rüher habe ich Phantasien und Träume gehabt, jetzt habe ich Angst vor Sexualität“, sagt eine seit kurzem querschnittsgelähmte Mittvierzigerin. Als sie später erzählt, weshalb sie gelähmt ist, wird die Angst nur zu verständlich: Ihr eifersüchtige Ex-Gatte hatte viermal auf sie geschossen. Als er sie tot glaubte, nahm er sich das Leben. 

Die geschlechtergetrennte Wahrnehmung setzt sich bei den Medizinern fort. Es gibt spezielle Spritzen und ausgetüfelten Konstruktionen, um dem Schwanz eine aufrechte Stellung beizubiegen: Silikonprothesen und implantierte Schläuche mit einer Pumpe in den Hoden. Beim Manne ist jede Nervenbahn erforscht, die fürs sexuelle „Funktionieren“ wichtig ist. Wie es bei den Frauen aussieht, darüber wissen die Doctores drastisch weniger. „Wir haben Sexualität viel zu lange an den männlichen Schwellkörpern festgemacht“, seufzt selbstkritisch ein Urologe. 

Die Verunsicherung ist nach wie vor enorm. Selbst progressive Einrichtungen, für die Kuschelecken und Zimmer für Paare schon lange eine Selbstverständlichkeit sind, tun sich schwer mit der Sexualität ihrer Schützlinge. 

Die Spastikerhilfe Berlin (SHB) etwa hat sich viele Gedanken zum Thema Sex und Sinnlichkeit gemacht und eine ganze Broschüre damit gefüllt: Über einen menschlicheren Pflegealltag – bislang oft „sachlich funktional bis grob“, über Chancen zur Partnersuche und Paarbildung, über Pornos, Vibratoren und Verhütung. Wie etwa verhält sich ein Betreuer, wenn ein Patient, der sich nicht entsprechend berühren kann, um Hilfe bei der Selbstbefriedigung bittet? 

Da muß jeder Betreuer seine persönlichen Grenzen neu ausloten. Zumal zwischen pflegender und betreuter Person ein Abhängigkeits- und also ein Machtverhältnis besteht. Das könne, warnt die Berliner AG Sexualität, „eine sehr kritische Dynamik bekommen“. Wenn überhaupt, lautet ihre provisorische Regel, ginge so etwas nur nach Rücksprache im Team. 

Die AG versucht, mit Sexualität in den Heimen anders umzugehen, Wege zu finden und Regeln zu definieren. Funktioniert ihr Konzept schon in der Praxis? „Nein“, sagt Dieter Ludwig, einer der Autoren. „Es ist schon schwierig, das Thema so rüberzubringen, daß die Mitarbeiter es als normal ansehen.“ 

Bei „Sensis“ ist der Rahmen klar abgesteckt: Der Mann oder die Frau kommen 45 Minuten ins Haus, für 130 Mark, zahlbar vorab in bar. Sie sind mit duftenden Ölen, Kerzen und Kondomen ausgerüstet. Anders als beim holländischen Vorbild gibt es kein Anrecht auf Geschlechtsverkehr. 

Heimlichtuerei soll vermieden werden, Anrüchigkeit gar nicht erst aufkommen. In ein paar Jahren, hoffen die Initiatoren, könnte ihr Service so normal sein wie ambulante Pflege oder Essen auf Rädern, mitfinaziert von Krankenkassen und Sozialämtern. 

„Sensis“ soll keine Prostitution sein – auch wenn es der Duden-Definition, einer „gewerbsmäßigen Ausäubung sexueller Handlungen“, sehr nahe kommt. Es fehlen die Zuhälter, das Rotlichtmilieu und die pure Absicht der Bereicherung. Der Service wurde ja gerade auch geschaffen, um Behinderten den oft unbefriedigenden und noch kostspieligeren Prostituiertenkontakt zu ersparen. 

Sicher reizt die Mitarbeiter auch das Honorar. Doch das ist so beträchtlich nicht, wenn man zu den 45-Minuten-Einsätzen die oft weiten Anfahrten dazurechnet plus all die Fortbildungen, Teamgespräche und Supervisionen, die auch die „Sensis“- Mitarbeiter, wie alle Sozialwerker heutzutage, in Atem halten. 

Wie fühlt sich eine Sexualdienstleisterin bei der Arbeit? Sie habe einen Job einfach gesucht, sagt Anja, eine der Sensis-Mitarbeiterinnen. Sie sagt, sie sei neugierig und auch ein bißchen engagiert. Beim ersten Einsatz war sie unsicher, genau wie ihr Klient. Sie hat sich wohl auch gefragt, ob sie nicht doch eine Nutte ist. Als sich Anja nach der vereinbarten Dreiviertelstunde wieder anzog, stand ihre Haltung zum neuen Job fest: „Der Grat ist begehbar. Und jeder Mensch braucht Nähe.“ 

Das Personal wurde aus einem halben Hundert Interessenten (vor allem Männer) ausgewählt, die sich auf eine Annonce meldeten. Machos, Zwangsbeglücker und andere dubiose Gestalten wurden ausgesiebt. Entscheidend für die Auswahl waren Erscheinung und Motivation. Sie achte vor allem darauf, sagt Chefin Greb, ob die Sexualarbeiter in spe „den sozialen Aspekt sehen“ und das nötige „Körperbewußtsein haben“. 

Die Leiterin ist Feministin, sehr alternativ (alles ist ihr „unheimlich wichtig“). Sie will das Projekt „in so eine Richtung lenken, wie ich mir wünsch’, daß Menschen überhaupt miteinander umgehen.“ Sie führt oft lange Telefonate mit der potentiellen Kundschaft und bescheidet einen Anrufer auch mal abschlägig. 

Die Kundschaft, glaubt die Chefin, sei zufrieden. Es haben sogar schon Eltern angerufen, die nun die erste sexuelle Erfahrung ihres behinderten Kindes organisieren wollen. „Das ist eine wunderbare Sache“, bestätigt Kunde Karl-Heinz, der den Dienst schon drei oder vier Mal in Anspruch genommen hat. Nein, er such hier keinen Ersatz für eine echte Partnerschaft. Er fühle sich „hinterher einfach erleichtert.“ Genau das sei der Sinn der Übung, meint Frau Greb – „den sexuellen Druck abzubauen“. 

Von Behinderten und ihren Organisationen allerdings kommt zum Teil heftige Kritik. Die Berliner Spastikerhilfe erachtet einen solchen Sex-Service problematisch, weil er „das eigentliche Problem nicht löst“. Auch Bärbel Mickler empfindet „Sensis“ als „sehr zwiespältig“. Sex von Behinderten sei nie normal, sagt sie: „Entweder er ist tabu oder etwas ganz besonderes.“ 

Rolf Lohr, Behindertenberater mit über 15jähriger Erfahrung, fühlt sich durch die „Sensis“-Debatte an seine Studienzeit in den 70er Jahren erinnert, als das „Recht auf Sex“ proklamiert wurde: „Da war von Sex und Behinderung die Rede, bis es mir zum Halse raushing.“ Bei Lohr „sträubt sich alles, von der Ästhetik bis zur Moral“. Er fürchtet, daß Behinderte nur noch mehr als Sonderfall dastehen, wenn sie - Mensch, ham die det jut! - Sex auf Krankenschein kriegen. 

Der Sozialarbeiter ist selbst querschnittsgelähmt, er braucht den ganzen Tag Betreuung, beim Waschen, beim Anziehen und vielen anderen Verrichtungen. Und natürlich ist er für mehr Sensibilität, kennt nur zu gut die im Wortsinne eingefleischte Pflegeroutine: „Ich fand es immer deprimierend, wenn das Personal an mir pflegerische Dienste vollführte und mich nackt liegenließ, wenn das Telefon klingelte.“ 

Die ganze Debatte, schimpft Lohr, sei „voyeuristisch“ und „anmaßend“, er wolle mit Sex so umgehen wie andere Menschen auch. „Ich stoße ständig auf Grenzen, aber damit muß ich leben. Sonst kann ich mir gleich einen Strick nehmen. Man redet ja auch nicht über die Sexualität von Brillenträgern.“ 

„Sensis“-Leiterin Greb kann brummig werden ob der vielen Anwürfe: „Sobald es um positive Gefühle geht, ist das ganz was Schlechtes, Schlimmes, Böses. Körperliche Berührung wird immer gleich mit Liebe verbunden.“ 

Gerade Menschen, die nicht allein trinken und essen können, kontert sie, „kann ich doch da nicht alleine lassen und sagen: Such’ Dir nen Freund oder ne Freundin!“ 

© Schimmeck