Stammenskämpfe

Kein Thema erregt Deutschland derzeit mehr als die Reform des Staatsbürgerrechts. Gerhard Schröders rotgrüne Regierung hat endlich ihr Aufbruchssignal - und die neuen Opponenten zerfleischen sich selbst.


von Tom Schimmeck 

Wolfgang Schäuble hatte ganze Arbeit geleistet. Im gerade vergangenen Jahr wäre der Mann beinahe Kanzler von Deutschland geworden - wenn Helmut Kohl nicht vergessen hätte, rechtzeitig den Chefsessel zu räumen. Nun aber thront der neue CDU-Vorsitzende auf einem Scherbenhaufen: Vom Gegner belächelt, von Freunden bemitleidet - und in der Sache deutlich Abseits.

Der Grund: Eine schnelle, einsame Entscheidung. Schäuble hatte sich von der bayerischen Schwesterpartei CSU drängen lassen, außerparlamentarisch gegen die rot-grüne Reform des deutschen Staatsbürgerrechts vorzugehen. CSU-Führer Edmund Stoiber dröhnte, mit der Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft drohten Gefahren wie einst durch den Terror der Roten Armee Fraktion.

Die Bayern verlangten einen Volksentscheid, Schäuble brachte - ohne Absprache mit Gremien und Beratern - als Kompromiß eine Unterschriftensammlung ins Spiel. Die Kampagne startet ab 24. Jänner. Im Bundesland Hessen, wo Anfang Februar eine Wahl stattfindet, ist sie bereits angelaufen.

Dabei sind sich auch aufgeschlossenere Vertreter der alten Regierung schon seit Jahren darüber im Klaren, daß das deutsche "Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz" aus der Kaiserzeit dringend reformbedürftig ist. Die jungen Garden der CDU hatten vor zwei Jahren gar eine Unterschriftenaktion der für die Tolerierung einer doppelten Staatsbürgerschaft bei Minderjährigen gestartet. Doch solches war in der Ära Kohl nicht durchsetzbar. Der Altkanzler hat zwar mit Elan für europäische Vereinigung gestritten, sich andererseits aber am anachronistischen deutsches Blut-Reinheitsgebot festgeklammert.

Nur bei Mischehen und bei den "Aussiedlern" aus dem Osten, die seit Mitte der 80er Jahre in großer Zahl kamen, war auch die alte Regierung bereit, ein Auge zuzudrücken. Rund zwei Millionen dieser "deutschstämmigen" Zuwanderer durften ihren alten russischen, rumänischen oder polnischen Paß behalten. Bei den anderen 7,4 Millionen Ausländern zeigte sich Deutschland weniger tolerant und bestand auf einer Ausbürgerung aus der alten Heimat. Die 16 Jahre der Kohl- Regierung, rügt die Berliner "tageszeitung", hätten "millionenfach Ausländer" produziert und "Parallelgesellschaften, Ghettobildung und Halbalphabeten" begünstigt.

Das Beharren auf dem "Blut- und Abstammungsprinzip" zeitigte problematische Folgen. So hatten etwa iranische Immigranten bislang kaum eine Chance auf Einbürgerung, weil der Iran seine Bürger prinzipiell nicht aus der Staatsbürgerschaft entläßt. Schwierig etwa für iranische Ärzte, die in Deutschland zugelassen werden - denn ohne deutschen Paß geht da wenig.

Ein Dauerbrenner war das Problem auch bei der größten Ausländergruppe in Deutschland, den 2,1 Millionen Türken. Die Eltern- und Großelterngeneration, die oft schon seit Jahrzehnten hier lebt, hatte sich lange die Option offengehalten, wieder in die Türkei zurückzukehren. Bei den Kindern und Kindeskindern spielt diese Erwägung meist eine geringere Rolle. Und doch fällt es auch ihnen nicht leicht, den türkischen Paß einfach abzugeben. Die Älteren hätten diesen Akt als Verrat angesehen. Die Jungen fühlen sich meist auch als Türken. Und wurden von ihrer deutschen Heimat mit scheelem Blick nur allzu oft daran erinnert, daß sie keine echten Deutschen sind. Das völkische Staatsverständnis versperrte Deutschland lange den Blick auf die Realität: Daß Deutschland ein Einwanderungsland ist, in dem bald jeder zehnte Bewohner "Ausländer" ist. In Großstädten wie Hamburg sind es 18,2 Prozent, in Frankfurt am Main sogar 29 Prozent.

So war die neue rot-grüne Regierung ganz stolz und wohlgemut, am vergangenen Mittwoch ihre Reform des Staatsangehörigkeitsrechts präsentierte. Künftig kann Deutscher werden, wer acht Jahre in Deutschland gelebt hat oder hier geboren ist, nicht straffällig wurde, für seinen eigenen Unterhalt sorgen kann, sich auf deutsch verständigen kann und eine Erklärung unterschreibt, daß er die Verfassung der Bundesrepublik anerkennt. Der alte Grundsatz, daß nur deutsch werden kann, "wer seine bisherige Staatsangehörigkeit aufgibt oder verliert", kommt in die Mottenkiste.

Für das Gros der gut vier Millionen "Ausländer", die seit über acht Jahren in der Bundesrepublik leben, ist der nun der Weg zum deutschen Paß frei. Eine Reform des Ausländer- und Staatsbürgerrechts wird ihre Unsicherheit beenden. Alsbald, sagen die Experten, müßte auch das Dickicht der deutschen Bestimmungen entrümpeln, die Einwanderer und Flüchtlinge in die verschiedensten Kategorien ordnet. Die unterste Stufe ist die Duldung, dann kommen diverse Formen der Aufenthaltsbefugnis, die Aufenthaltsbewilligung, darüber die Aufenthaltserlaubis, und schließlich, nach acht Jahren guter Führung, die unbefristete Aufenthaltsberechtigung.

Es sei "höchste Zeit", meint der Autor des Regierungsgesetzentwurfes, der SPD-Innenminister Otto Schily, "Staatsvolk und Wohnbevölkerung zusammenzuführen". Schily, ein ehemaliger Grüner, der in letzter Zeit eher durch rechte Sprüche aufgefallen war ("Die Grenzen der Belastbarkeit sind überschritten.") wirbt mit Verve für ein "neues Staatsverständnis". Kanzler Gerhard Schröder ist glücklich, nach den turbulenten Wochen des Neubeginns, in denen sich die Neu-Koalitionäre um Ökosteuer, Atomausstieg und ein Dutzen anderen Themen balgten, endlich eine Reform präsentieren zu können, die einen echten Neuanfang verspricht. Und auch die echten Grünen sind's zufrieden: Die Reform, lobt ihr Bonner Fraktionschef Rezzo Schlauch, sei "ein Quantensprung".

Bei so viel reformerischem Selbstbewußtsein wird selbst der CDU ob ihrer Anti-Haltung schon ganz mulmig zumute. Zumal der Beifall für ihre Unterschriftenaktion ausschließlich von der falschen Seite kommt: Republikaner und anderen rechtsradikale Splitterparteien haben der CDU/CSU schon tatkräftige Unterstützung beim Sammeln zugesagt. Kirchen, Gewerkschaften, alle anderen demokratischen Parteien und das Gros der deutschen Medien dagegen sehen in der Aktion eher einen populistischen Coup von Haider'schen Dimensionen.

Auch in der CDU selbst rührte sich prompt Widerstand. Liberale Christdemokraten wie die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth und der Ex-Generalsekretär und -Minister Heiner Geissler und der Ex-Bundespräsident von Weizsäcker gaben öffentlich ihre Ablehnung der Kampagne zu Protokoll. Ganze CDU-Kreisverbände kündigten vergangene Woche einen Boykott der Unterschriftensammlung an. Besonders zerrissen zeigt sich die Schäuble-Partei in der werdenden Hauptstadt Berlin, wo in diesem Jahr ebenfalls Wahlen zu bestehen sind. Berlins liberaler CDU-Flügel sieht die Aktion als "kaum verhüllte Neid- und Hetzkampagne".

Kaum hatten Schäuble&Co begriffen, auf welch verhängnisvollen Pfaden sie mit ihrem deutschnationalen Vorstoß wandeln, suchten sie eilig zurückzurudern. In Bonn traf sich letzten Dienstag eine CDU/CSU-Runde, um ein Programm und den Text für die Unterschriftenaktion zu formulieren. Um dem Ruch des ausländerfeindlichen Propaganda zu entkommen, verabschiedete man ein gewundenes Papier, in dem 41 mal das Wort "Integration" auftaucht.

Nur der gerupfte Oppositionschef gibt sich nach außen ungebrochen. "Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun", verkündet Schäuble, "den Unfug dieses Vorhabens zu verhindern." Und auch sein hessischer Statthalter Roland Koch, der am 7. Februar eine rot-grüne Koalition ablösen soll, ist wild entschlossen, eine Art "Pocket-Stoiber" zu spielen und die Doppel-Staatsbürgerschaft zum Hauptthema seines Wahlkampfes zu machen. Doch seine Chancen sind schlecht. In den Umfragen verfügt Rot-Grün auch im Bundesland Hessen über eine solide Mehrheit.

© Schimmeck