Kämpfer im Vorruhestand

Kreuzberg adé. Am Rande von Berlin tastet sich eine kleine Kolonie von Freaks, Ex-Hausbesetzern und Gestrandeten an ein beinahe bürgerliches Leben heran


von Tom Schimmeck 

Wie friedlich es hier ist. Es grünt. Vögel zwitschern. Die Luft duftet. Na gut, da hinten ist die Autobahn. Und die Eisenbahn quietscht auch ein bißchen. Aber sonst: eine Idylle.

Pjotr ruht im Plastikbassin, ganz entspannt, ganz nackt. Er blinzelt in die Sonne, kräuselt mit einer langsamen Handbewegung die Wasseroberfläche. Nein, das Leben muß kein Martyrium sein.

Diana, seine blasse Freundin, macht mit Töchterchen bei ihm Sommerferien. Ein bißchen weg von der Stadt, ein bißchen Ruhe haben. Die Kleine kann im Sandkasten vor den Sonnenblumen spielen. Heute abend werden sie grillen. Und dann in Pjotrs schönen Bauwagen klettern, der ganz aus Holz ist. Innen hat er ihn liebevoll mit Kokosmatten isoliert und verschalt. Ein Heim, das auch im Winter warm ist.

Pjotr, 34, ist vor 14 Jahren, aus Polen nach Berlin gekommen. Es war eine aufregende, eine aufgeregte Zeit. Schnell war er in der Hausbesetzer-Szene. Ein Fulltimejob: Herumwerkeln, Kontakte knüpfen, Aktionen planen, die Lage debattieren und die persönlichen Beziehungen. Es ging ja um mehr als nur Wohnraum. Sie wollten keine halben Sachen machen, wirklich anders sein, etwas ausprobieren, eine Duftmarke setzen, sich behaupten gegen die Bullen, diesen Staat. Es war alles ziemlich intensiv.

Nebenbei hat er auch gearbeitet, als Drucker. Erst in Berlin, dann eine Zeit lang in Wiesbaden. Da machten ihn neue Maschinen entbehrlich. Also schulte Pjotr auf Installateur um. Seit einem halben Jahr ist er arbeitslos. Das ist doppelt schlecht, weil er doch versucht, sein "Dasein zu legalisieren". Ohne Job droht im die Ausweisung. "Da ist schon Spannung hinter", sagt er etwas melancholisch und steigt aus dem Planschbecken.

Immerhin: Er hat ein hübsches Heim. Über Freunde fand er hier in die Bauwagensiedlung an der Pankgrafenstraße, bei Karow, am nördlichen Stadtrand von Berlin. "Hier finde ich's nicht schlecht", sagt er. "Ich wollte auch nicht mehr mit Verrückten zusammenleben."

Auf gut 4 Hektar Land leben 66 Erwachsene und 14 Kinder. Junge alleinerziehende Mütter, die von der Sozi leben. Eine Menge Freaks. Manche haben eine Job oder sind Freiberufler – die spirituelle Renate zum Beispiel, die Farbkonzepte für Fassaden entwickelt. Ihr Wagen ist mit Telefon, Anrufbeantworter und Computer ausgestattet. Sie fühlt sich hier "näher an der Realität des Planeten".

Andere tun nichts - zum Beispiel der entspannte Helmut. "Helmut, wie der Kanzler", sagt er. Helmut sitzt das Leben derzeit ein bißchen aus, auf seiner Hochterrasse über dem Bauwagen. Manchmal verlegt er irgendwo einen Teppich oder spielt Gitarre an der Yorckstraße. Ansonsten will er "nur nachdenken". Helmut macht "eine ganz spannende Forschung: Mit so wenig wie möglich auszukommen. 250 Mark im Monat gehen, 300 sind besser, bei 150 wird es spannend." Arbeitslosengeld, Sozialhilfe? "Nein. Ich gehöre nicht zu den Opferleuten. Wenn ich den Staat in Ruhe lasse, läßt er mich auch in Ruhe."

Die meisten kommen aus der Szene. Aber es gibt nur noch einen echten Punk. Und Lilly, die immer denkt, daß die Außerirdischen kommen, aber aufgehört hat zu trinken. Und Heinz, 47, den alten Stadtstreicher. Wer ihn für einen Penner hält, liegt völlig falsch. Ja, er hat jahrelang auf der Straße gelebt, täglich zweieinhalb Flaschen Fusel gesoffen. Aber jetzt ist Heinz Aktivist, Vizevorsitzender des Obdachlosenvereins MOB e.V.. Er hat er ein Auto, ein Handy, einen 14-Stunden-Tag. Er managt den Vertrieb der Obdachlosen-Zeitung. Abends sackt er in seinen ziemlich zugemüllten blauen Bauwagen, kratzt sich den Vollbart und nimmt einen großen Schluck Multivitamin-Saft.

Das Grundstück, auf dem sie alle leben, hat Geschichte. Zur Nazizeit waren hier Zwangsarbeiter aus dem Osten interniert, zu DDR-Zeiten war hier eine Schweine-LPG. Nach der Wende trieben Wehrsportgruppen in den Ruinen ihre Spielchen. Man sieht noch die bunten Farbkleckse der "Gotcha"-Pistolen, mit denen solche Sportsfreunde aufeinander schießen.

Der Senat will die Bauwagen-Subkultur bis zum Jahr 2000 aus der Innenstadt verjagt haben. Berlin als Hauptstadt, findet der Innensenator Jörg Schönbohm, sei schließlich "Schaufenster und Repräsentant unseres Staates". Also kamen sie vor fünf Jahren aus einer Punk-Wagenburg in der Stadt ins Ausweichquartier Karow. Aber was heißt hier ausweichen? Manchen erschien es als allzu große Schmach, sich von Schönbohms Polizisten an den Stadtrand schieben zu lassen. Hier kann man sich kaum als historisches Subjekt fühlen, das ein Fanal setzt.

Vielleicht ist es doch eine Altersfrage. Diejenigen, die hiergeblieben sind, laufen nicht mehr mit der Fackel herum. Sie bezahlen Strom, Wasser und Telefon. Sie benutzen Bio-Toiletten und trennen ihren Müll. Sie haben einen Verein gegründet, die "Pankgräfin e.V.", sich mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband eingelassen, mit der Bezirksverwaltung und ein paar Politikern, die vielleicht etwas für sie tun können. Ein 15-Jahres-Vertrag ist im Gespräch. Die Pacht wird schon gesammelt.

Sie wollen sich nicht mehr verschleißen. "Es ist komisch, daß sich eine Gruppe, die autonom leben will, über die Jahre immer mehr Regeln gibt", meint Sylvia, eine Bauwagen-Veteranin, die hier mit ihrem Sohn Max lebt. Es sind eine ganze Menge: Keine Drogen, keine Gewalt, keine Umweltverschmutzung, pünktliche Bezahlung von Pacht und Unkosten. Wer nicht zahlt, bekommt drei Mahnungen, dann die Kündigung. Manchmal erschrickt die Gruppe vor sich selbst: "Wir haben jetzt schon so viele Regeln, das geht doch nicht."

Sylvia, 32, ist eine ganz unverschnörkelte, resolute Frau. Sie weiß um die Strapazen des autonomen Lebens, hat Szene-Erfahrung satt, wohnt seit zwölf Jahren im Bauwagen. Sie kennt geplatzte Hoffnungen, zerbrochene Beziehungen, Schulden und Streit aller Härtegrade. Und hat daraus den Schluß gezogen, daß Regeln auch Sicherheit und Klarheit geben können. Daß man sich entscheiden muß. Nun sitzt sie auf ihrer Bank und sagt ganz pragmatisch: "Du kannst nicht völlig autonom leben und machen, was Du willst."

Vor zwei Jahren hat sie ein häßlichen Lehrstücks in Realpolitik erlebt. Die Polizei hatte eine Wagenburg an der East Side Gallery geräumt, wohl die wildste von allen: Drogenabhängige, Tuberkolose-Fälle. Viel Dreck, Schnorrerei, Diebstähle. Bei einem Überfall hatte es einen Toten gegeben. Die Reste der Siedlung sollten eigentlich nach Staaken, doch die Bürger dort drohten alles anzuzünden. Also rollte die Karawane gen Karow. "Wenn ihr die nicht aufnehmt", drohte die Polizei, "gibt's keinen Vertrag". Den Karowern war klar, daß ihre fragile Gemeinschaft daran zerbrechen würde. Sylvia mußte sich vor die Einfahrt stellen und Verrat üben: "Hier ist kein Platz für diese Leute."

Anfangs war auch der Karower Wagenburg rabiate Ablehnung entgegengeschlagen. Eine "Bürgerinitative für ein sauberes Karow" hängte Zettel gegen die "Chaoten" aus. Heute trifft man sich beim Einkaufen. Die Wagenburgler gelten nur noch als Exoten. Sie versuchen, sich als nette Nachbarn zu erweisen, haben zum Sommerfest mit Flohmarkt und Wildschweinessen geladen. "Man darf nicht den Faden zur realen Welt verlieren", sagt Sylvia. Max soll jetzt in den Karower Kindergarten, sie will wieder arbeiten.

Sie sind zu einer festen Gruppe gewachsen. Sie wollen es sich hier nett machen, mit Teich, Volleyballfeld und viel Grün. "Es ist verdammt normal hier geworden", sagen sie, "und das ist gut so." Das politische Programm? "Gärtnern und Kinder kriegen", sagt eine Frau trotzig. Auch wenn alte Kumpanen sie dafür als "Yuppie-Wagenburg" verhöhnen.

"Wir sind etwas gesetzter", meint Frank, 35, der mit Freundin Steffie, 33, die Abendstille genießt. Er trinkt ein Bier, sie löst ein Kreuzworträtsel, der Gardena-Schlauch gluckert fröhlich vor sich hin. "Früher war es krass", sagt sie. "Jetzt ist es herrlich."

Kreuzberg goes Schrebergarten. Und es ist ihnen kein bißchen peinlich. Er sei vom "Partytier" zum "Landei" mutiert, gesteht Frank. Was fehlt? "Eigentlich nur noch ein richtiger Job", findet er. "Ich hoffe, daß ich noch in den Genuß eines Wahlkampfgeschenkes komme - in Form einer ABM-Stelle." Und wenn der Vertrag kommt, sagt sie, wolle sie "eine Sauna mit Solarzellen".

"Ja", meint Steffie, "wir haben unsere harte Zeit echt hinter uns". "Ich verbürgerliche, ich verspießere", sagt Frank. Er lächelt ganz zufrieden. "Ich hab' sogar einen Gartenzwerg."

© Schimmeck