TOM SCHIMMECKs ARCHIV
2002

"Ich bin kein 68er, nie gewesen"

Der Publizist und Theatermann Ivan Nagel über das Weltendrama in Zeiten des Irak-Kriegs und die Paradoxien seiner Wahlheimat Deutschland.

Ivan Nagel: Das Falschwörterbuch – Krieg und Lüge am Jahrhundertbeginn, Berliner Taschenbuch Verlags GmbH, 7,50 Euro

Herr Nagel, einst schrieben Sie über Goya und Mozarts Opern, jetzt treibt Sie die Figur George Bush um. Warum dieser Themenwechsel?

Ivan Nagel: Zum einen aus Erfahrung, aus Lebengeschichte. Ich musste schon als Kind erfahren, dass Verfolgung und Folter zum Wesen jedes Krieges gehören. Krieg schadet nicht nur dem Feindesland, sondern löst die Ordnung und Solidarität im eigenen Land auf. Zum zweiten: Man darf als Normalbürger nicht schweigen. Das eigentliche Motto meines "Falschwörterbuches" ist ein Wort von Martin Luther King vom 4. April 1967, während des Vietnamkrieges: "Die Zeit kommt, in der Schweigen Verrat ist. Wir sind gefordert, für die Schwachen zu sprechen, die keine Stimme haben. Für die Opfer unserer Nation, die sie 'Feinde' nennt."

Ist Schweigen heute Verrat?

Nagel: Es geht um die Demokratie in Zeiten des Krieges. Ein irregeführtes, mit Lügen überstopftes Volk kann nicht mehr vernünftig über sich selbst bestimmen. Wenn wir die Demokratie als Staats- und Lebensform wollen, müssen wir das Bündnis von Krieg und Lüge durchschauen, bekämpfen. Ich versuche das in den letzten zwei Jahren.

In einer Laudatio für Susan Sontag haben Sie gesagt: "Fühlen und Denken derer, die um 1930 in Europa geboren wurden, begannen mit der Tötung von fünfzig Millionen anderen. Der Zweite Weltkrieg und die Schoa standen am Eingang unseres bewussten Lebens." Gibt es eine Parallele zwischen ihrer Jugenderfahrung mit Nazideutschland und ihrem heutigen Erleben?

Nagel: Ich erinnere mich genau an jenen Abend, da ich auf dem Schoß meines Vaters in seinem Arbeitszimmer in Budapest saß und er, immer bleicher werdend, im Radio die Rede des Kanzlers Schuschnigg zum "Anschluss" Österreichs anhörte. Da war ich sieben. Ich spürte, dass damit ein neuer, böser Abschnitt unseres eigensten Lebens anfing. Von da an sprachen meine Eltern zuhause nicht mehr Deutsch, nur noch Ungarisch. Ein Jahr darauf brach der Krieg aus. Dann kam die deutsche Besetzung Ungarns, dann der Holocaust.

Wo ist die Parallele zum Irak?

Nagel: Ich habe zwei Besatzungsarmeen erlebt, die deutsche und die russische, keine hat ein besseres System in das besetzte Land gebracht. Wer jüngst behauptet hat, durch Krieg freedom and democracy in den Irak zu bringen, war entweder dumm oder hat gelogen.

Sie beschreiben in einem Essay, wie sie zu Beginn des Irakkrieges in einem brasilianischen Hotelzimmer schmerzvoll-süchtig die amerikanischen Fox News verfolgen...

Nagel: Vom Bildschirm kam die verlogenste Kriegshetze. Es erinnerte mich an das Hitlerradio während des Krieges und das Stalin-Radio in den letzten Jahren seiner Herrschaft. Ich versuche seither, mein Erschrecken mit Nüchternheit zu bändigen. Aber die Angst will und kann ich nicht wegdiskutieren. Wir sind nicht überlegen. Wir sind Teil von dem, was da kommt. Und der Kopf sagt uns dasselbe wie die Magengrube: Wer lügt, der mordet.

In ihren Analysen scheint stets eine große Furcht mitzuschwingen.

Nagel: Ich fürchte, dass Amerika bei einer Wiederwahl von George W. Bush in seiner Verachtung der Vereinten Nationen und der Verbündeten weiter getrieben wird. Ich fürchte, dass die einzige Weltmacht sich weiter in ihr Wahnverhalten verstrickt.

Sie kennen die USA, haben dort gelebt. Wie konnte es so weit kommen?

Nagel: Amerika ist auf eine groteske und großartige Weise aus Gegensätzen zusammengesetzt. Das hat zu einem beispiellosen Aufschwung nicht nur von Reichtum, sondern auch der Künste und Wissenschaften geführt. Das Land weiß, dass Vielfalt und Freiheit sein großer Vorsprung sind. Dem steht aber immer wieder eine machohafte Kombination von Selbstgerechtigkeit und Gewaltbereitschaft entgegen, bekannt aus Western-Filmen. Zu ihnen greift der "richtige Amerikaner", wenn ihn die Widersprüche des eigenen Landes und der großen Welt verwirren. Wenn das Land der Freiheit zum Land der Gewalt wird, sind wir entsetzt. Mit Recht entsetzt.

Sie sind kein Anti-Amerikaner?

Nagel: Nein. Den platten Antiamerikanismus, Schadenfreude über das Versagen unserer Morallehrer, finde ich gerade jetzt besonders schädlich. Aber wir müssen alles tun und sagen, damit diese grauenhafte Regierung nicht wiedergewählt wird.

Sie sehen sich nicht als Altlinken?

Nagel: Ich bin kein 68er, nie gewesen. Ich empfand damals die sowjetische Gefahr größer als den Zwang, sich mit Vietnam zu beschäftigen. Das hat die US-Jugend zum Glück selber erledigt. Die Neigung der "Studentenrevolte", mit der Berliner Mauer vor der Nase nur an Vietnam zu denken, fand ich schwer verständlich.

Cohn-Bendit, Peter Schneider und andere fühlen sich den USA heute eher nahe...

Nagel: Das sind Bußübungen für 68. Die soll man entweder im Beichtstuhl oder beim Psychiater hinter sich bringen.

Sie haben sich, explizit als Jude, mit dem israelischen Botschafter in Berlin angelegt. Warum?

Nagel: Das war in den Tagen, als Scharon ein grässliches Attentat der Hamas als Vorwand nahm, einen Krieg mit allen Waffen gegen alle Formen des "Terrorismus" zu verkünden. Es ist ein Irrglaube, Terrorismus lasse sich durch Krieg besiegen. Da ist Bush ein Schüler Scharons. Sie helfen, täglich mehr Terrorismus in der ganzen Welt und leider auch in Israel zu erzeugen.

Sie haben in scharfer Form auch die deutschen Sozialreformen kritisiert.

Nagel: Mir fiel auf, dass sich die 'Falschwörter', die öffentlichen Lügen im Bereich der sogenannten Sozialreformen beinahe noch dichter häuften als beim Irak-Krieg. Dort hieß der Angriffskrieg "Drohkulisse", hier die Belastung der Ärmsten "Eigenverantwortung". Die Verschleierung dessen, was man mit unserer Gesellschaft vorhat, ist genauso gefährlich wie Kriegsvorbereitungen.

Als Sie in der "Süddeutschen Zeitung" darüber schrieben, ernteten sie prompt eine zornige Replik vom Leiter des Wirtschaftsressorts.

Nagel: Ich finde es fabelhaft, dass das passiert ist. In den besten Zeiten der einmal großen Wochenzeitung "Die Zeit" geschah es ständig, dass ihr Herausgeber Gerd Bucerius einen Journalisten dessen Position dezidiert vertreten ließ – und er selbst, auf der selben Zeitungsseite, dagegen Stellung nahm. Außerdem enthielt mein Artikel über die Falschwörter der Sozialreformen besonders viele Zitate aus dem Wirtschaftsteil der "Süddeutschen Zeítung".

Was macht die deutsche Sozial-Debatte so verquer?

Nagel: Die Lage ist besonders verdreht. Hier ist keine Mitte-rechts-Regierung am Werk, sondern die vorgeblich linke Regierung Schröder. Felix Austria ist auch diesmal glücklicher: Da weiß man, wie in Frankreich und Italien, dass man von links gegen den Sozialabbau opponieren kann. In Deutschland versuchen es SPD und Grüne selber und bauen ihre Regierung noch schneller als den Sozialstaat ab.

Tun das nicht alle?

Nagel: Das reiche Deutschland mit seinem enormen kulturellen und wirtschaftlichen Potential lässt sich besonders viel Trübsal und Panik verschreiben. Die deutsche Wirtschaft hat mit ihren unaufhörlichen Predigten des bevorstehenden Ruins eine große Dummheit gemacht. Sie glaubte, damit Tarifverträge, Kündigungsschutz und anderes ihr Hinderliche beschleunigt aushöhlen zu können. Tatsächlich hat sie ihren eigenen Binnenmarkt ausgehöhlt.

Wie sähe die alternative Regierung aus?

Nagel: Nun, die Dame Merkel ist sicher einer der fragwürdigsten Denker und Charaktere. Sie sprach noch an dem Tag, da Rumsfeld erklärte, die Truppen stünden bereit, von einer "Drohkulisse" – ausgerechnet in Washington, wo sie zu Besuch war. Und warf Schröder vor, seine Politik steigere die Kriegsgefahr. Wäre es nach Angela Merkel gegangen, müssten wir jetzt die ersten toten Soldaten aus dem Irak nach Berlin heimtransportieren.

Sie diagnostizierten damals an Merkel einen "DDR-Reflex, sich bei der Schutzmacht anzubiedern".

Nagel: Bei wem biedert sie sich in der Innenpolitik an? Viele der einfacheren Bürger, die sie wählen wollen, merken nicht, dass eine Staatsführung durch Merkel und Merz zur Verelendung ihrer Familien führen würde.

Vielleicht wird es Ivan Nagel ihnen sagen?

Nagel: Mein erster Leitartikel erschien im Schweizer "Tages-Anzeiger" im März 1957 – gegen die sowjetische Unterdrückung in Ungarn. Ich bin da wohl unverbesserlich. Ich glaube an Vernunft und Sprache, gerade in schlimmen Zeiten.

 

Ivan Nagel wurde am 28. Juni 1931 in Budapest geboren, mit gefälschten Papieren überlebte er die Verfolgung der Juden in Ungarn. 1948 floh er in die Schweiz, studierte in Frankfurt am Main Philosophie und Soziologie bei Adorno. 1962-69 war er Chefdramaturg der Münchner Kammerspiele, 1972-79 Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Nagel gründete das Festival »Theater der Welt«, leitete das Württembergische Staatsschauspiel und war Schauspieldirektor der Salzburger Festspiele. Parallel arbeite er immer wieder als Essayist und Kritiker. 1985 erschien "Autonomie und Gnade. Über Mozarts Opern", 1997 "Der Künstler als Kuppler. Goyas Nackte und Bekleidete Maja". 1989 wurde Nagel Professor für Geschichte und Ästhetik der darstellenden Künste in Berlin.


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