Aufreißen, fertig, mampf
Wie wird die Welt satt? Nicht unser Problem. Wir leiden an Völlegefühl. Und verlangen nach immer neuen Abenteuern im Mund.
von Tom Schimmeck
6 Prozent der Männer und 51 Prozent der Frauen in Deutschland sind übergewichtig, jeder Fünfte ist adipös, verrät die zweite Nationale Verzehrstudie des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Der deutsche Verbraucher gibt sich recht kritisch, blickt aber ungern in den Spiegel. Beim Essen entpuppt er sich als gierig, leicht verführbar, überhaupt durch und durch irrational. Er schmeckt nicht so genau hin. Er hat es gern gut und frisch, aber bitte ganz billig. Seine Ansprüche sind hoch. Sein Budget für Nahrung aber wird immer knapper. Der Verbraucher ist geizig. Er heuchelt Liebe für Tante Emmas Laden. Und eilt zu dunkler Stunde in den Supermarkt. Meist in die immer dichter gesäten Discount-Märkte, die im harten Preiskampf viele Schnäppchen bieten. Ihr Marktanteil liegt längst bei über 40 Prozent.
Neben seiner Sparsamkeit hat die mit Nahrung befasste Industrie ein zweites Problem mit dem Kunden: Er ist ein Gefäß mit begrenzter Füllmenge. Ja, er kann beträchtlich anschwellen. Und tut dies massenhaft. Doch es gibt Expansionsgrenzen. So bedarf es stets frischer Verlockungen, um den Kaufimpuls auszulösen. Alljährlich lassen Großkonzerne wie Unilever und Nestlé in ihren Labors Hunderte neuer Saucen, Suppen, Schokoladen und Drinks komponieren. Erfolgreiche Marken werden in hundert Varianten feilgeboten. Vor allem die Halbfertig- und Fertigprodukte, die jene sich immer länger streckenden Dosen- und Tiefkühlregalmetern füllen. Essen soll ein müheloses, flottes Erlebnis sein. Angeblich greifen schon 97 Prozent aller deutschen Haushalte zu Fertigfutter. Zur Lebenserleichterung. Kochen? Gibt’s nur in der Kochsendung. Und wenn schon Kochen, dann sollen alle Kartoffeln gleich groß sein. Und bitte geschält und vorgegart.
Die Laboratorien leisten Enormes bei der Analyse von Bestandteilen und Textur, Aussehen, Geruch und Geschmack. Die Chemie ist komplex. Kaffee etwa hat Tausende von Inhaltsstoffen. Food-Designer und Flavoristen komponieren stetig neue Geschmackskreationen, greifen dafür tief ins Regal ihrer Aromastoffe. Sie malen mit Farben, experimentieren mit Nano-Partikel, helfen bei der Konsistenz nach. Maltodextrin etwa, vorverdaute Stärke, hebt das „Mouth Feel“ der Suppe. Siliziumdioxid gibt dem Ketchup diesen satten Plopp. Titandioxide machen das Dressing hell und freundlich. Selbst Wasser kommt heute mit vielen kleinen Extras daher. Die natürlich einen höheren Preis rechtfertigen helfen.
Manchmal kommen böse Gerüchte auf: Über Erdbeeraroma aus Sägespänen, oder Gulaschgeschmack aus Klärschlamm. Das einzige aber, was die kompositorische Perfektion wirklich stört, ist der natürliche Restgeschmack der Komponenten. Im professionellen Nahrungs-Modellbau agiert man lieber auf freiem Spielfeld. Natürlich muss ein bisschen Grün auf dem Teller mitschwimmen. Fürs Auge. „Schau-Gemüse“, sagt der Fachmann. Merkwürdig übrigens, dass bei diesem Thema immer alle denken: Schweinkram aus Amerika. Dabei kommt ein wahrer „global player“ aus Eppelheim im Landkreis Rhein-Neckar: die Wild-Werke („We Create Great Taste“). Sie wurden mit dem weltweiten Siegeszug der „Capri-Sonne“ groß, liefern heute Aromen und Extrakte, Farben, Konzentrate, „Süßungssysteme“ und fertige „Geschmackssysteme“ bis nach Kanada und China. Der letzte Schrei: „ethnische Profile“ von mexikanisch bis karibisch. Ein Loblied auf die Kreativchemiker findet sich unter www.wildflavors.com.
Gewiss: Technologie gehört zum Essen. Sie sorgt für Hygiene und Haltbarkeit. Das vom bayerischen Herzog Wilhelm IV. anno 1516 erlassene Reinheitsgebot für Bier war gewiss ein Segen. Schon Napoleon I. forcierte neue Verfahren zum Konservieren von Nahrungsmitteln, aus militärischen Erwägungen natürlich. Doch ist Nahrung noch frisch und gesund, wenn nicht nur dem Endverbraucher die Arbeit am Herd zu mühsam oder zeitraubend erscheint, sondern auch die Köchin nicht mehr kocht und der Bäcker nicht mehr backt? Längst kommt viel Brot auf weiten Wegen aus riesigen Fabriken, wird nur noch aufgewärmt. Die üppigen Speisekarten vieler Restaurants sind nur möglich, weil alles fix und fertig geliefert wird. Von den gleichen Herstellern, die auch unsere Kühltruhe füllen. Aufreißen, schnell in die Mikrowelle, fertig, mampf.
Doch selbst der perfekte Kunstgeschmack reicht nicht mehr für den Erfolg neuer Industrienahrung. Heute muss ein Heilsversprechen her, ein geistig-moralischer Mehrwert: Iss mich, trink mich und schon wirst du schön, schlau, kerngesund und fit. „Functional Food“ ist der Renner. Der probiotische Joghurt zur Stärkung des Abwehrsystems. Wissenschaftlich umstritten, aber ein Kassenschlager. Ein gesunder Look hilft auch. Ein helles Papp-Toastbrot etwa wirkt dank Malzextrakt fast wie ein Vollkornprodukt. Künftig soll Wellness gleich im Essen stecken. Die nach ewiger Schönheit strebende Französin schmiert sich „Norelift“ auf ihr Baguette, die Hautstraffungs-Marmelade aus der Apotheke, in modernen Geschmacksrichtungen wie Melone und Mango, natürlich ohne Zucker. In Holland trinkt man hierfür „Collalift“, ein Collagenhaltiges Gemisch, das binnen 42 Tagen einen „sichtbaren Verjüngungseffekt“ verspricht. In Japan, Ursprungsland der Funktionsnahrung, kauen Männer ein Kaugummi namens "Otoko Kaoru". Es verspricht Rosenduft statt Schweißgeruch.
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