Vom Mädchen zum Mysterium
"Voran mit Deutschland", ruft Angela Merkel. Ihr Sieg scheint sicher. Erfolgreich verkauft sich die konservative Spitzenkandidatin als Retterin der Nation. Was will sie? Wer ist sie? Für das Gros der Deutschen noch immer ein Geheimnis.
VON TOM SCHIMMECK
ur Siegen ist schöner. Doch dieser Vorab-Jubel prickelt auch schon herrlich. Der Saal johlt, La-Ola-Wellen wälzen sich über die Ränge, ungewohnte Rockrhythmen schütteln die Delegierten des konservativen Volkspartei CDU. Der Eventmanager zieht alle Register, spielt mit Laserlicht, Farben und fettem Sound. Unvermeidlich erklingt „We are the champions”. Und "Angie", das traurige Lied vom Ende einer Liebe, nun zur Hymne der Angela Merkel mutiert. Die Rolling Stones haben protestiert. Aber auch die haben hier nichts mehr zu melden.
Allmählich wird es zur Gewissheit: Angela Merkel ist Deutschlands kommende Kanzlerin. Am vergangenen Sonntag zelebriert die CDU schon die große Merkel-Messe, einen Krönungsparteitag für die heilige Angela, ausgerechnet in der Dortmunder Westfalenhalle, bislang ein Mammut-Partykeller der Sozialdemokraten. Zehn ihr ergebenen CDU-Fürsten werfen sich in den Staub. Selbst der elfte, Bayernfürst Edmund Stoiber von der CSU, lässt den Dolch im Gewande. Altpatriarch Helmut Kohl, den sie einst verstoßen half, als dunkle Machenschaften ruchbar wurden, lächelt huldvoll an ihrer Seite.
Sie blitzt in die Menge, frisch gestylt, Typ-beraten, beflügelt vom nahen Triumph. Die oft als spröde, kalt und misstrauisch beschriebene Physikerin strahlt. Sie kann sogar Show, wenn sie muss. Wenn es nützt. "Geht nicht gibt's nicht!", deklamiert Merkel. Die Botschaft: Durch mich wird Deutschland runderneuert.
Ein Markplatz tief im Osten. Fünf mittelalte Musiker und eine knapp bekleidete, emsig hampelnde Dame peitschen Evergreens über den Platz. Trommelwirbel. Schon bebt es am hinteren Rand der Menge. Bodyguards und Kameras drängeln. Eine Phalanx junger Helfer in orangen T-Shirts reißt die Arme gen Himmel, hält orange Papptafeln über den Kopf, auf denen "Angie" steht.
Einen "Riesenapplaus" bestellt der Einheizer am Mikrofon: "Begrüßen sie die Zukunft, die Hoffnung und die Lösung unserer Probleme!" Die Stimme überschlägt sich, heißt die "zukünftige Kanzlerin" willkommen. Angela Merkel betritt die Bühne.
Es ist Wahlkampf. Da muss etwas passieren. Da wollen Emotionen geweckt werden. Nichts wird dem Zufall überlassen, jede Kameraeinstellung überprüft, jede Kulisse gecheckt, jeder Satz abgeschmeckt. Damit die Kandidatin stets optimal rüberkommt.
Sie ackert sich durch ihren Text, zwingt die Mundwinkel hoch. Nur jetzt nicht diese sauertöpfisch wirkende Merkel-Miene aufsetzen, dieses "Tante-Emmi-Gesicht", wie sie es selber nennt. Zuversicht soll sie verströmen. Der Kopf wird von einer riesigen Videowand überlebensgroß vervielfacht.
Angela Merkel gibt sich als redliche Reformerin, die Arbeit, Arbeit, Arbeit schaffen, aber die Menschlichkeit nicht vergessen will. Die Rentner kommen vor, die innere Sicherheit, auch die Türkei, die nicht in die EU soll. Oft sagt sie "Deutschland", am Ende singt sie mit herumstehen Lokalgrößen die Nationalhymne. Als sie entschwebt, erklingt wieder "Angie".
Routine. Die Kandidatin hat das landauf, landab schon viele Male absolviert. Die Rede wirkt nicht fesselnd, doch nahezu fehlerfrei. Nur als sie dem pfeifenden, "Lüge" brüllenden Pulk vorne rechts Paroli bieten will, verhaspelt sie sich. "Das Schöne an unserer Demokratie" will Merkel sagen. Heraus kommt: "Das Schöne an unserer Demonstration..." Spontan gelingt ihr selten gut. Als sie neulich nach der Rolle des ewigen Rivalen Edmund Stoiber gefragt wurde, amüsierte sie die Presseschar mit dem Satz: "Über Edmund Stoiber und seine Rolle haben wir gemeinsam und jeder für sich alleine oft gesprochen." Im Bundestag hatte sie dem Kanzler zuvor überraschend "Handlungsfähigkeit" bescheinigt – da war ihr die Silbe "un" abhanden gekommen. Die eigenen Leute japsten.
Man muss kein glänzender Orator sein, um in Deutschland zu siegen. Ihr Ziehvater Helmut Kohl brachte in 16 Jahren Regentschaft kaum einen grammatisch korrekten Satz heraus. Vielleicht steigert dieses Defizit sogar die Spannung. Wenn Merkel im TV auftritt, fiebert der Zuschauer nicht selten unfreiwillig mit. Wird Sie diese Attacke parieren können? Wird sie diesen verqueren Satz doch noch einlochen?
Die Choreographie funktioniert. Aber Begeisterung? Fehlanzeige. Auf den Marktplätzen sinkt der Enthusiasmus mit jedem Meter Entfernung von der Bühne. Vorne halten die Getreuen den Beifalllevel, weiter hinten wird es schnell stiller. Zumal im Osten, wo die Skeptiker wohnen. Obwohl sie doch eine von ihren ist. Merkel fürchtet den Herkunfts-Trumpf auszuspielen. Sie muss als gesamtdeutsches Geschöpf wirken, die Erfolgsstory der forschen Frau verkörpern, die in der westlichen Männerwelt siegen lernte. Viele Ostdeutsche sagen ohnehin: "Das ist keine von uns mehr." Sie redet zu viel von Eliten und "Leistungsträgern". "Wir wollen leben", ruft ein Betrunkener dazwischen, "und keine Armut!"
Immerhin: Man lauscht ihr. Bürger kommen in Scharen, neugierig auf diese Angela Merkel, die sich nach oben geboxt hat im katholischen Männerverein CDU, trotz aller vermeintlich unvorteilhaften Eigenschaften: Frau, Ossie, evangelisch, kinderlos. Nicht einmal Jura hat sie studiert. Kann die das schaffen?
Notorisch wird Merkel unterschätzt. Was dem Lächler Schröder mühelos zufliegt, muss sie sich hart erarbeiten. Ihr Temperament ist eher unterkühlt, ihr Charisma unterentwickelt. Trotz Top-Design und Schickeria-Friseur sieht sie meist nach verirrter Landeule aus, nach Uckermark im Hosenanzug. Ein Sieg Merkels, schreibt Elisabeth Noelle, Grande Dame der deutschen Demoskopie, wäre "ein Einschnitt in der Geschichte der öffentlichen Darstellung von Politik".
Die Kandidatin verkauft sich als Antityp zum gewandten, charmanten, eleganten Noch-Kanzler, als die nüchterne Frau Doktor, die schlechte Nachrichten und bittere Pillen im Köfferchen hat. Sie wolle "ehrlich" sein, sagt sie, "überzeugen". Das trägt Früchte. Bis heute gilt Schröder beim Volk als weitaus schwungvoller, sympathischer, humorvoller, als dreimal besserer Redner. Doch das Vertrauen ist futsch. Beim Wert Ehrlichkeit geht die Herausforderin mit Abstand als Erste durchs Ziel. Seine Rolle spiele Schröder perfekt, stichelt Merkel, aber "das Amt füllt er nicht aus".
Und sie? Hat sie das Rüstzeug, es besser zu machen? Die Jugend der Pfarrerstochter Angela Dorothea Kasner im hübschen brandenburgischen Templin war behütet, geradezu idyllisch. Die Clique funktionierte, in der Schule war sie Klassenbeste, gewann Mathematik- und Russisch-Olympiaden, ohne als Streberin zu gelten. "Kasi" war der nette Kumpel. Boulevardblätter ergötzen sich in intimen Merkel-Portraits gern daran, dass sie schon als Teenie einer Art CDU angehörte: dem "Club der Ungeküssten".
In der DDR lebte Merkel wie in Zeitlupe, eher unspektakulär – nicht rebellisch, nicht völlig angepasst. Sie hatte ein bisschen Ärger an der Schule, machte aber auch Kulturarbeit in der FDJ. Sie trank Kirsch-Whisky, studierte, zeltete, arbeitete an der Akademie der Wissenschaften, heiratete, ließ sich wieder scheiden. Beschleunigt waren nur die Kohlenwasserstoffteilchen, über die Merkel 1986 promovierte.
Doch das ist Geschichte, Schmalz von gestern. Die DDR ist seit 15 Jahren tot. Mit ihrem Ende begann das zweite Leben der Angela Merkel, ungleich rasanter, kurvenreicher. Sie kam zum "Demokratischen Aufbruch", war im Nu Vizesprecherin der ersten und letzten frei gewählten Ost-Regierung De Mazière. Bald entdeckte sie der Kanzler Kohl, kürte sie zum Quotengirl (Osten+Frau) seines Wiedervereinigungs-Kabinetts. Nicht einmal Astrologen hätten damals geahnt, dass Kohls "Mädchen" ihn keine zehn Jahre später entmachten und an seine Stelle treten würde.
Dabei lernt sie offenbar blitzschnell. Ihren Mentor Kohl studierte sie genau, diesen Maschinisten der Macht, der die Republik per Telefon regierte, überall seine Fäden spann und regelmäßig auf Haltbarkeit prüfte. Längst hat Merkel auch im Herrschen eine Eins. Wie der Alte, sagen Kenner, traktiere sie sonntags das Fernsprechgerät, bis alle Parteirollen hübsch verteilt und die Woche politisch wasserdicht ist.
Wie tickt diese Frau? Berge von Portraits sind erschienen, dazu vier Biographien. Das Mysterium bleibt. Das Phänomen M. hat extreme Konjunkturschwankungen erlebt, die Merkelogie treibt immer neue Blüten. Als sie anno 2000 Parteichefin wurde, häuften sich die Hymnen auf die neue Heldin. Später schlug die Meinungsmacherlaune ins Gegenteil. Nun war sie die "schwarze Witwe" ("Stern"), die mit kaltem Herzen und "Killerinstinkt" ("Die Zeit") alle Widersacher mordet. Nun, da ihr das Kanzleramt sicher scheint, schmiegt sich der journalistische Hofstaat wieder enger an die Leitfigur.
Tatsächlich hatte die ambitionierte Merkel nach der Stoiber-Niederlage 2002 wohl keine andere Wahl, als sich mit harten schnellen Schnitten ein Maximum an Macht zu sichern. Binnen kürzester Zeit zog sie in Berlin eine neue Ebene loyaler Gefolgsleute ein, mit Männern wie Generalsekretär Volker Kauder, einst Stoiber-Fan, nun Merkel-Regisseur. So mehrt sich die Schar der "Merkelianer", von Kritikern abschätzig "Boygroup" genannt.
Friedrich Merz stand ihr als Fraktionschef im Weg – sie brauchte diese zweite Bastion für sich. Ex-Parteichef Wolfgang Schäuble war viel zu eigenständig für den Spitzenjob des Bundespräsidenten, ein Horst Köhler schien da deutlich handzahmer. Rivale Stoiber musste auf Muppetshow-Format schrumpfen. Selbst karrierefreudige CDU-Fürsten wie Roland Koch (Hessen) und Christian Wulff (Niedersachsen) geigen derzeit im Orchestergraben mit.
Was aber hat die Abgeordnete des Wahlkreises Stralsund - Nordvorpommern – Rügen mit Deutschland vor? Wie sehen die Konturen der Ära Merkel aus? Mit Kanzler Schröder handelte ihre CDU, im Bundesrat mit üppiger Blockademehrheit ausgestattet, allerlei Reformen aus, die Gesundheitsreform etwa oder das Paket der Hartz-Gesetze. Schröders und Merkels Einflüsterer sind teilweise identisch. So suchte der Kanzler oft den Rat von Ex-Siemens-Chef Heinrich von Pierer. Für Merkel soll derselbe Mann nun einen zehnköpfigen „Rat für Innovation und Wachstum” lenken.
"Quo vadis, Deutschland?" fragte Merkel in einer Grundsatzrede vor knapp zwei Jahren, die beim Wirtschaftsflügel der Union die Hoffnung weckte, eine neue Margaret Thatcher sei geboren. Sie wetterte gegen das "irrwitzige Dogma der Umverteilung", kündigte eine Umwälzung des Gesundheitswesen an und jene radikale Steuerreform, die sie nun mit der Berufung des konservativen Finanzprofessors Paul Kirchhof befördern will. "Es wird dabei Heulen und Zähneklappern geben", prophezeite Merkel damals, "aber es muss sein."
Jetzt gibt sie sich softer, das Prinzip aber bleibt: Die breite soziale Staffelung soll fallen. Für Merkels Krankenversicherung mit "Kopfpauschale" würden Marktfrauen und Manager den gleichen Satz zahlen. Auch die Steuer soll nach Kirchhofs Ideal als "flat tax" erhoben werden: 25 Prozent für alle. Die Kandidatin will einen staatlich gestützten Niedriglohnsektor schaffen, den Kündigungsschutz weiter reduzieren, das Rentenniveau "langsam, aber deutlich" senken und die Wochen- und Lebensarbeitszeit verlängern. Neoliberale stimmt dies hoffnungsfroh. Der Wunschpartner FDP ist begeistert. Ganz anders der soziale Flügel in CDU und CSU.
Auch die Nationalkonservativen fremdeln: "Das Eigenartige an dieser sich anbahnenden Wende ist ihre weltanschauliche Kühle", moniert "Cicero"-Chef Wolfram Weimer. "Die heißen Sphären der konservativen Denkwelt – die Nation, die Religion, die Familie, die Tradition – bleiben tief im Gefrierfach des Adenauerhauses verschlossen."
Wie in Schiff liegt die Parteizentrale am Landwehrkanal, ein geschwungener Bau, gefangen in einem riesigen Glasbassin, "Deutschlands Chancen nutzen" steht jetzt in Riesenlettern auf schwarz-rot goldenem Grund. Angelas Dampfer will bald ablegen.
Das Büro der Chefin liegt ganz oben, vorn im Bug. Darüber flattert die Parteifahne. Die Action aber ist im zweiten Stock, der Wahlkampfetage. Auch hier dominiert orange, ein erprobter Farbton. CDU-Mann Ole von Beust triumphierte letztes Jahr in Hamburg mit Orange. Orange ist in – von Jörg Haider bis zum ukrainischen Aufbruch. Als Kontrast hängen im Flur uralte Plakate – aus Zeiten, da Werbung noch handgestrickt war, mit Slogans wie: "Wähl auch Du CDU".
Im Kampfgeschoss rattern die Kopierer, die Werber von McCann Erickson und Shipyard Nice Media – noch ein Hamburg-Import –, brüten immer neue Attacken aus. Hier haust auch das "teAM Zukunft" – eine Schar Freiwilliger, die für eine Pizza und ein Bett Wahlkampf machen, per Telefon und Internet. Sie schreiben Newsletter und frische "Testimonials" – Merkel-Bekenntnisse mit Foto. Das "teAM" beschafft Ordner, Flugblattverteiler und viel fröhliches Publikum für die "Angie"-Events. Die schräge Schreibweise hebt die Initialen der Heldin hervor.
"Politik ist mein Hobby", bekundet Claudia Dunsche, 22, Studentin der Betriebswirtschaft und offenbar süchtig nach Agitation: "Das ist mein vierter Wahlkampf in einem Jahr", sagt sie stolz, und Angela Merkel "eine Frau, die ihren Weg machen wird". An den Wänden hängen bunte Fotos der Kandidatin – "unsere Fan-Wand". Auf einer Stelltafel wird täglich eine Zahl gewechselt: "Nur noch x Tage bis zum Wechsel in Deutschland." Der Countdown läuft.