TOM SCHIMMECKs ARCHIV
FEBRUAR 2004

Der Onkel mit der Bombe

Er war Kind einer radikalen Zeit, versenkte sich in das Übel dieser Welt, beging aus Sympathie mit der RAF einen Anschlag und sprengte sich selbst. Fast 20 Jahre nach dem Tod ihres Sohnes Johannes ist Ulrike Thimme seinem Leben und Sterben mit einem Buch nachgegangen.

von Tom Schimmeck

E
ie öffnet die Tür, empfängt freundlich. Jäh ist man beeindruckt. Von der geschmackvollen, hellen Wohnung, die den Frieden einer guten, bildungsbürgerlichen Existenz atmet. Und von der Frau selbst: Eine Dame, geboren 1923, sehr aufrecht und sortiert. Man ahnt, dass sie, wenn das Gespräch zum Kern kommt, Banalitäten nicht dulden wird.

Ulrike Thimme reicht Kaffee, lässt Zeit für einen kleinen Rundblick. In der Karlsruher Wohnung steht und hängt viel Schönes – feine Fundstücke aus aller Welt, viel moderne Malerei. Die meisten Künstler seien Freunde, erklärt sie.

Frau Thimme hat drei Söhne großgezogen, 1955, 56, 57 in dichtem Abstand geboren. Johannes, der mittlere, war der wildeste, sagt sie, zitiert ihr Tagebuch von 1958: "Er hat fast immer irgendwo eine Beule." Später mokierte er sich über die "dämmrig-elitäre Wohnzimmerkultur" der Eltern. Der Spruch ist eine Art running gag im Hause Thimme.

Johannes Thimme wurde am 20.1.1985 von einer Bombe zerrissen. Die "selber zusammengestellte Sprengvorrichtung", wie es später im Urteil gegen die Mittäterin hieß, sollte im Rechenzentrum der Deutschen Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft und Raumfahrt am Stadtrand von Stuttgart explodieren, um Aufmerksamkeit für den aktuellen Hungerstreik der Gefangenen der Roten Armee Fraktion RAF zu schaffen. An einem stillen Sonntagabend schafften Thimme und Genossin die Bombe mit einem Kinderwagen zum Tatort. Sie detonierte während der Installation. Später lieferte die Polizei blutverkrustete Kleidungsfetzen bei der Mutter ab, in Plastikbeuteln verpackt. Der Ordnung halber.

Als sich Ulrike Thimme im Alter von 79 Jahren an den Schreibtisch setzte, um das Leben des toten Sohnes aufzuschreiben, wollte sie die Geschichte zunächst für die Thimmes bewahren, vor allem für ihren Enkelsohn. Früher gab es in den Familien oft eine mystische Gestalt, sagt sie, "den einen Onkel, der nach Amerika gegangen war und von dem man nie wieder gehört hat." Johannes sollte keine solche hinter dunklen Andeutungen verschwindende Figur werden, keiner irgendwann am Kaffeetisch sagen: "Da war doch was." Und nicht mehr wissen, was.

Sie hat sich an den Dokumenten – Tagesbücher, Briefe, Fotos, Prozessakten – "entlang gehangelt" knapp ein halbes Jahr lang. Tagsüber betreute sie den kranken Ehemann, abends erinnerte sie sich des Sohnes. Die Geschichte ist chronologisch durcherzählt, mit bisweilen fast sezierendem Auge. Sie sei fest entschlossen gewesen, "mir nicht irgendwas zusammenzuphantasieren", sagt sie resolut. Weswegen sie nun auch all die vielen Talksshow meiden will, die auf der verzweifelten Suche nach dem letzten Gefühl sind. Für die wäre das gewiss ein Leckerbissen: Mutter und Sohn plus Terror und Tod. Mmmh.

Nein, bloß keinen Kitsch produzieren, bloß nicht in der Mama-Schublade landen. Die Distanz, mit der sie auf dieses Leben blickt, ist beeindruckend, manchmal fast irritierend. Kaum Trauer, kein Weinen klingt hier an, kein idealisierender oder heroisierender Ton. Also keine Emotionen, die man sofort mit "Mutter" verbinden würde. "Das war schon in mir abgehandelt", sagt die Historikerin in eigener Sache.

Die Gefühle wirken wie auskristallisiert. Die Wut ist weg, der eigene Schmerz bleibt in indirektem Licht. "Das war nicht schwer", sagt Frau Thimme. Die zeitliche Distanz hat sehr geholfen. "Ich musste nicht noch mal den Schmerz nachholen. Sonst wäre es wohl auch zu emotional gewesen."

Sie hat Kernbohrungen im Sediment der jüngeren Geschichte gemacht und liefert eine Menge Material: Anekdoten, Szenen, Schulaufsätze, Briefe, amtliche Phrasen. Bewegt von der Hoffnung, dass vielleicht "ein Schimmer vom Sinn des politischen Denkens, Handels und Sterbens von Johannes" aufscheinen möge.

Johannes Thimme, sagt die Mutter, war "ein besonders begabter, aufgeschlossener, gerechtigkeitsbesessener Junge". Das Kind von zwei Akademikern, beide Dr.phil. Er war Hauptkonservator am Museum und viel auf Reisen, sie wurde Lehrerin. Ihr Erziehungsstil war eine "zwar von Liebe bestimmte, aber letztlich inkonsequente Mischung". Fehler gemacht? Sie lächelt. "Die Frau des Pfarrers hat den Leuten damals gesagt: 'Die Frau Thimme ist ja selber schuld, die hat ihre Kinder antiautoritär erzogen.' Was natürlich völliger Schwachsinn war", setzt sie hinzu. "Einerseits wollten wir nicht so einen Nazidrill, auf der anderen Seite sollte es zu freiheitlich auch nicht zugehen..."

Es gilt fast schon als Binse, dass die RAF aus gutem Hause kam. Doch die Familien waren sehr verschieden. Bei Pastor Ensslin etwa ging es gestreng zu, bei Thimmes eher liberal: Man diskutiert viel. Alle drei Söhne sind sehr politisch, kritisch, links, halten die Eltern aber nie für verkappte Nazis. Eher schon für verschlurft-naiv – "dämmrig-elitäre Wohnzimmerkultur" eben. Wobei sie die Vorzüge schon genießen: Gutes Essen, viel Kunst, Anregung, Wissen. Der Sound? Eine Mischung aus Beatles, Biermann und Symphonieorchester am Badischen Staatstheater. Johannes spielt Querflöte.

In der Schule findet sich eine "Basisgruppe", wo ein paar Schüler Weltlage und Theorie durchnehmen – Faschismus, Kapitalismus, Imperialismus. Zu den älteren zählt Christian Klar, später im harten Kern der RAF. Der Lateinlehrer ist ziemlich entsetzt, als Johannes eines Tages seine Klassenarbeit mit "Johannes Thimme, Unterdrückter des kapitalistischen Leistungssystems" signiert. Da tauchen die Wörter wieder auf, die damals Klang hatten: Selbstbestimmung, Befreiung, Intensität, Konsequenz. Die offizielle Welt schien bestenfalls bigott zu sein, Lug und Trug, konsumgeile Warengesellschaft, Kriegsmaschine. Viele waren sicher, dass die große, authentische Erfahrung, das wahre, bessere Leben anderswo wartet. Viele glaubten damals, dass der Faschismus hinter jeder Ecke lauert und der Kapitalismus demnächst an seinen Widersprüchen ersticken wird.

Die Mutter hält die Stellung, wenn am Küchentisch über den Vietnam-Krieg, Julius Cäsar und Moral und Unmoral des Kaufhausdiebstahls debattiert wird, auch über die ersten Anschläge der RAF. Mit 17 geht Johannes ein Jahr in die USA des Richard Nixon. "Ich kann einfach nicht verstehen, wie man sich tagtäglich knüppeldicke Skandale gefallen lassen kann, die jeder halbwegs ehrlichen Auffassung von Demokratie im Gesicht rumtrampeln", berichtet er. Selbst aus der Ferne beschäftigt ihn schon damals, dass in Deutschland "Strafgefangene brutal zwangsernährt" werden und es "die Isolation als Folter" gibt. Das entlarvt den Staat in seinen Augen.

Johannes, sagt die Mutter, "ist in diesen Jahren leider niemandem begegnet, der ihn in die richtige Richtung gebracht hätte." Gewiss wird zuhause gestritten. Die Mutter lehnt alle Gewalt strikt ab, auch die Entführungen und Morde, die nun Schlagzeilen machen. Der Sohn hält die staatliche Gewalt dagegen: Knüppeleinsätze auf Demonstrationen, und wieder die Haftbedingungen der Politgefangenen. Er beginnt in Tübingen Politik, Soziologie und Sinologie zu studieren, besucht die Eltern gelegentlich. Man redet. Aneinander vorbei.

Dann, im Dezember 1976, die erste kurze Festnahme. Das BKA taucht bei den Eltern auf, stellt Fragen. Johannes ist wütend, dass sie überhaupt mit den Beamten gesprochen haben. In Briefen geht es nun heftig hin und her. Die Eltern kümmern sich um seine Wohnung, und er schimpft, sie hätten mit dem Hausmeister, diesem "Gestapo-Blockwart" paktiert: "Dass ihr euch immer angepasst habt, hat bei Euch Geschichte." Im gleichen Brief wird der Satz von der "dämmrig-elitären Wohnzimmerkultur" geboren, in der sich Johannes nun plötzlich als "Dorn" sieht.

Der Ton wird härter. Sie fragt: "Liegt es nur an mir?". Er blafft zurück: "Was mich aufregt ist dein moralisches lamentieren". Sie versuche doch nur, "mich in dieses korrupte system möglichst reibungslos zu integrieren". Noch heute wünscht die Mutter, der Sohn hätte damals einen echten Widerpart gefunden, "der ihn hätte an den Schultern packen und ihm ein Ziel zeigen können". Über ihre Ohnmacht damals schreibt sie wenig. "Ich war sehr oft sehr deprimiert", sagt sie. "Über das Ihn-nicht-erreichen-Können, aber zunehmend auch über die Zustände in unserem Staat. Das hat mich schon sehr heruntergezogen."

Der Staat tritt nun sehr viel massiver auf den Plan. Im April 1977 ermordet das RAF-Kommando "Ulrike Meinhof" Generalbundesanwalt Siegfried Buback. Der Fahndungsdruck wächst, auch auf die "Sympathisanten-Szene". Johannes Thimme wird Anfang Mai auf offener Straße eingekreist, aus dem Auto geholt und verhaftet. Anklage: Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung. Er kommt nach Pforzheim, in "strenge Einzelhaft". Für ihn ein weiterer Beleg, dass im Land "Faschisierung" und "Gehirnwäsche" im Gange sind. Und er Teil des "Antiimperialistischen Lagers". Er liest eine Umfrage, der zufolge 41 Prozent der Deutschen sagen, bei Hitler dürfe man "das Gute nicht vergessen", und schreibt: "diese ca 40%, die hitler verehren und schmidt wählen, die ihre kinder prügeln und auf horoskope, tranquilizer und kommunistenjagd schwören und die sich beim geschwätz um das neuste automodell einen runterholen, der deutsche chauvinistische spiesser also, der sagt natürlich auch: terroristen kopfab..."

Wieder treten die RAF-Gefangenen in den Hungerstreik. Thimme nimmt Teil, kämpft nun auch gegen die Eltern, die ihn mahnen, sich zu verteidigen und auch die andere Seite zu sehen, verlangt echte Solidarität. Der Vater stellt klar, dass er immer ihr Sohn bleiben werde, "dass aber die Solidarität, die Du forderst, nicht besteht und nie bestehen wird. Dies sind unsere Gründe: Deine politischen Ziele sind nicht die unsern; wir verurteilen die Methoden, die Dir zur Durchsetzung politischer Ziele denkbar erscheinen, und wir halten jene von der RAF, von denen Du Dich nicht distanzieren willst, für Verbrecher..."

Der Sohn, in seiner Zelle jetzt völlig abgeschirmt, ohne Besuch, Post, Zeitungen, sieht diesen Brief lange nicht. Doch er wirbt nun um Verständnis, weil "die Situation hier nicht gerade prädestiniert ist, um zu jeder Stunde locker und entspannt ne Kritik vorzubringen". Nach Ende der völligen Isolation wundert er sich selbst über "mein borniertes, aggressives Verhalten gegenüber euch".

Die Bundesanwaltschaft wirft ihm Kontakte zum Schulfreund Christian Klar und dessen Freundin Adelheid Schulz vor. Auch sei er bei einer RAF-Operation mit dem Decknamen "Margarine" als Helfer eingeplant gewesen. In beschlagnahmten Notizen des untergetauchten Anwalts Siegfried Haag war ein "Tim" aufgetaucht, der sich um Dokumente, Depots und Einkäufe kümmern sollte. "Tim" war Johannes Thimme, sagt die Anklage. Die Eltern sind zuversichtlich. Die Indizien sind dünn. Und die Operation "Margarine" hat niemals stattgefunden.

Dennoch Thimme kommt im kalten deutschen Herbst 1977 nach Stuttgart-Stammheim, guckt auf "doppelgitter+drahtverhau+fliegengitter=vier gitter", sieht jeden Versuch, seine Unschuld zu beweisen, als Verrat. "Es gibt einen rationalen Hass, der notwendig ist", formuliert er, und will keine Taktik, nur Treue zu den Genossen beweisen. Als ihn das Oberlandesgericht im Sommer 1998 wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu 22 Monaten Haft verurteilt, ist kein Journalist im Saal. Thimme gilt nur als "Sympathisant", als kleiner Fisch. In der Urteilsbegründung steht: "Der genaue Umfang der vom Angeklagten tatsächlich ausgeübten Tätigkeit hat sich nicht ermessen lassen."

"Als er in den Bunker gebracht wurde, bekam ich keine Luft mehr", schreibt die Mutter. Doch die Chronistin bleibt im Hintergrund, will ja nicht ihre Seele spiegeln, sondern zeigen, wie diese Zeit tickte, wie das Land gor und dabei stank, wie der Staat und seine Feinde aufeinander zudonnerten. Es war eine Rutschpartie in den Abgrund: Man liest die schrillen O-Töne, erinnert sich fasziniert des wilden Tunnelblicks, der gnadenlosen Verbiesterung. Du bist ein Teil des Problems oder seiner Lösung, predigte die RAF. Die Welt war nun zweigeteilt: Hier Genossen, dort die Schweine. Entglitt ihr der Sohn? Das Gefühl, sagt sie, "hatte ich immer wieder". Wobei Eltern und Kind sich durch die Haft, die vielen Briefe und Besuche, sogar näher kamen. Und doch, nickt sie, war es "eigentlich das durchgehende Gefühl".

Johannes, wieder frei, erwägt einen Neustart, ein Studium, macht sich Gedanken, "was aus mir asozialem und subversivem Element in der nächsten Zeit werden soll". Tatsächlich aber studiert er nur die Wunden dieser Welt, frisst sich durch die Zeitungsberge, schnippelt Artikel aus. Die Mutter mahnt: "Johannes, wenn man den ganzen Tag nur das Leid der Welt in sich aufsaugt, dann muss man ja falsch reagieren". Jeder, sagt sie jetzt, "rastete in seiner Position ein."

1981 sitzt Johannes erneut im Gefängnis. Er hatte zum RAF- Hungerstreik ein Solidaritäts-Flugblatt verteilt ("versteht, dass der faschismus da ist"). Am nächsten Hungerstreik nimmt er teil, erlebt wieder Kontaktsperre, Einzelhofgang, landet im Krankenhaus bei "echten" RAFlern, ist beeindruckt von deren ungebrochenem Kampfesmut. Der neue Paragraph "Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" schnappt zu: Anderthalb Jahre Haft. Der "Spiegel" moniert die "groteske Härte" des Urteils, der "Stern" schlagzeilt: "Wie man Terroristen macht."

Eltern und Sohn kämpfen umeinander, mal hart, mal sehr zart. "Ich", sagt sie jetzt kopfschüttelnd, "in meiner treumütterlichen Art – überzeugen und vernünftig und so weiter." In einem Brief gibt der Gefangene minutiöse Anweisungen für die erlaubten drei Kilo im "Osterpaket", ordert Zigarillos ("was besseres halt"), Datteln, geschälte Pistazien ("Gewicht!") und substanzielle Mengen Toblerone. Er dankt: "spitze, echt gut." Wieder in Freiheit aber gibt es Streit, die Fäden werden dünner. Gelegentlich sehen sie sich, empfinden, sagt Ulrike Thimme, "eine Mischung aus freundlichem Zugeneigtsein und völligem Unverständnis". Dann legt er die Bombe und ist tot.

Draußen dämmert es. "Er wollte schon, dass ich ihn verstehe. Aber ich konnte eben diesen Weg nicht verstehen", resümiert Ulrike Thimme im Wohnzimmer. Im Buch hat sie Brechts "Lob der Vergesslichkeit" zitiert:

Wie sollte sonst
Der Sohn von der Mutter gehen, die ihn gesäugt hat?
Die ihm die Kraft seiner Glieder verlieh und
Die ihn zurückhält, sie zu erproben.

Sie versuchte, ihn nicht zurückzuhalten. "Und hätte es doch manchmal gern getan."

Ob der Enkel das alles verstanden hat? Er sei stolz auf seine Oma und ihr Buch, sagt er am Telefon, das sei "supergroßartig von ihr". Diese ganz andere Sprache, auch zwischen Vater und Sohn ist ihm aufgefallen. Doch wie "absolut krass politisch" der Onkel war, scheint meilenweit fern. "Diese Radikalität", meint er, "da sind Welten zwischen."

Ulrike Thimme: Eine Bombe für die RAF. Verlag C.H.Beck, 17,90 Euro.


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