„Ich glaube, Fanons
Vermächtnis ist kolossal“

Rezension: Frédéric Ciriez / Romain Lamy: Frantz Fanon. Aus dem Französischen von Michael Adrian. Hamburger Edition. 240 Seiten, 25 Euro.
ISBN 978-3-86854-352-0.

von Tom Schimmeck

Frantz Fanon gilt als Vordenker der Dekolonisierung. Kurz nach seinem frühen Tod 1961 erscheint sein wichtigstes und wohl berühmtestes Buch, „Die Verdammten dieser Erde“, eine Analyse der kolonialen Herrschaft und zugleich eine Kampfschrift. Der französische Schriftsteller Frédéric Ciriez hat Fanons Leben und Denken über viele Jahre recherchiert und zusammen mit dem Journalisten und Illustrator Romain Lamy in eine Graphic novel gepackt. Entstanden ist eine Art intellektueller Biographie, zuerst in der Edition La Découverte erschienen, nun in der Hamburger Edition, dem Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung, auf Deutsch herausgekommen.

(Ton Fanon) Frantz Fanon, Psychiater, Journalist, Aktivist, Philosoph – hier in einer Aufnahme beim internationalen Kongress der schwarzen Schriftsteller und Künstler 1956 – war gewiss besonders. Geboren wurde er 1925 auf Martinique in der Karibik, damals eine französische Kolonie, noch heute ein sogenanntes „Übersee-Département“. Die Familie lebte in bescheidenem Wohlstand. Frantz kam aufs Gymnasium.
Schon mit 17 Jahren wollte er sich der Freien französischen Armee anschließen, um gegen den Faschismus zu kämpfen. Mit Hilfe von Schleusern gelangte Fanon auf die britische Nachbarinsel Dominica. Absolvierte dort seine Grundausbildung. Mit mäßigem Erfolg.
Seine Beurteilung: „Nullachtfünfzehn-Soldat. Ohne militärischen Geist. Handelt sich immer wieder Ärger ein.“

1944 kam er via Casablanca mit der ersten Panzerdivision nach Saint-Tropez, wurde verwundet, kämpfte im Elsass. Erlebte Rassismus – bei Befreiern und Befreiten. Fanon: „Die amerikanischen Soldaten wurden bejubelt. Wir nicht. Befreier, das ja. Aber schwarz und französisch.“

Viele solcher Details aus dem Leben des Frantz Fanon finden sich in dieser weit gespannten Bildergeschichte. Handlungskern ist eine Begegnung Fanons mit Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und dem Regisseur und Journalisten Claude Lanzmann, die im August 1961 in Rom stattgefunden hat. Zusammen debattierten sie die großen Fragen: Herrschaft, Befreiung, Bewusstsein, Kampf. Fanons Anliegen: Er wollte Sartre überzeugen, das Vorwort zu seinem Buch „Die Verdammten dieser Erde“ zu schreiben.

Szene aus der Graphic Novel

(de Beauvoir) „An wen richtet sich dieses Buch?“
(Fanon) „An alle, die Algerien lieben und in ihm die Möglichkeit einer konkreten Utopie sehen. An die französische Linke, die noch nie durch besonderen Mut aufgefallen ist. An Sie, Sartre.“
(Sartre, zu sich selbst) „Dieser Mann ist außergewöhnlich. Ein revolutionärer Psychiater in einer symbiotischen Beziehung mit Algerien. Ein überschwänglicher Mann von großem Ernst, der in keine Schublade passt.“

Fanon hatte nach dem Weltkrieg in Lyon Medizin und Philosophie studiert. 1952 brachte Dr. Fanon, 27 Jahre alt, sein erstes Buch heraus: „Schwarze Haut, weiße Masken“. Eine vielfältige, oft subtile Erkundung des kolonisierten Menschen und seiner Entfremdungserfahrung, die buchstäblich „unter die Haut“ geht.

Fanon: „Die Explosion wird nicht heute stattfinden. Es ist zu früh … oder zu spät. Ich komme nicht bewaffnet mit entscheidenden Wahrheiten. Mein Bewusstsein ist nicht von bedeutsamen Lichtblitzen durchzuckt.“

1953 trat Fanon eine Stelle in einer psychiatrischen Klinik in Algerien an. Studierte die Psyche der Kolonisierten intensiver.

„Et j’ai vu une jeune femme…“ Vor Jahren, erzählt Autor Frédéric Ciriez, sah er in einem Buchladen, wie eine gute Freundin, die aus Madagaskar stammt, sich auf Fanons Bücher stürzte. Ihn – den weißen Franzose – faszinierte Fanon. Sie aber geradezu elektrisiert: „Bei ihr war das wie ein Weckruf. Ich beschäftige mich jetzt seit etwa 20 Jahren mit Fanon. Und es war eben nicht nur ein intellektueller Kontakt, sondern auch einer, der vermittelt wurde durch eine junge Frau aus Madagaskar, die in Frankreich lebt.“

 

Fanon, Arzt und Intellektueller, Schriftsteller und Revolutionär, findet Ciriez, sei gerade jungen Lesern viel zu wenig bekannt. Er hat Jahre recherchiert, war in Algerien und auf Martinique, hat mit WeggefährtInnen Fanons und zwei seiner Kinder gesprochen.
1956, zu Beginn des Unabhängigkeitskrieges, schloss sich Fanon der FLN an, der algerischen Befreiungsfront. Wurde ihr Sprecher, Repräsentant, Diplomat. Therapierte zugleich Folteropfer. Und schrieb die „Verdammten dieser Erde“. Als er schon wusste, dass er Leukämie hatte. Und wenig Zeit.

Ciriez: „Sartre und Fanon stehen beide an einem extrem dramatischen Punkt ihres Lebens. Wir sind im August 1961. Fanon wird im Dezember an Leukämie sterben. Sartre ist erschöpft. Er wird angefeindet, trinkt viel Alkohol, nimmt Corydrane, die Droge der Intellektuellen, ein Amphetamin. Das Leben ist ein bisschen an ihm vorbeigezogen.“

Fanons Hauptwerk ist eine scharfe, oft brillante Analyse kolonialer Macht. Und die Suche nach Wegen, diese kollektiv und individuell zu besiegen. Revolutionäre in Afrika, Asien, Lateinamerika, ja selbst die Black Panthers in den USA werden sich darauf beziehen. In Deutschland erscheint das Werk bei Suhrkamp und im damals progressiven Rowohlt Verlag.

Das Buch ist auch eine Art Krankenakte eines weißen, westlichen Bewusstseins. Immer geht es ihm um die Befreiung seines Körpers, der Psyche, der Kultur. Um Würde, Selbstbewusstsein und Emanzipation. Auch um Gewalt und Gegengewalt. Zitat: „Zahlen wir Europa nicht Tribut, indem wir Staaten, Institutionen und Gesellschaften gründen, die von ihm inspiriert sind. Die Menschheit erwartet etwas anderes von uns als diese fratzenhafte und obszöne Nachahmung. Für Europa, für uns selbst und für die Menschheit, Genossen, müssen wir eine neue Haut schaffen, ein neues Denken entwickeln, einen neuen Menschen auf die Beine stellen."

Fanons Texte erleben heute, auch im Kontext einer neuen Befassung mit Kolonialismus und Rassismus, eine Renaissance. Ciriez: „Ich glaube, Fanons Vermächtnis ist kolossal. Sein Denken hat einen globalen Raum erobert. Es besteht kein Zweifel, dass die Fragen, die er auf seine Weise gestellt und sozusagen physisch durchschritten hat, heute die unsrigen sind.“

Auf Menschen, die den oft recht gespreizten Sound französischer Intellektueller nicht gewohnt sind, könnten manche Szenen hölzern wirken. Umso verblüffender ist, mit welch leichter Hand Frédéric Ciriez und Romain Lamy den manchmal schweren Stoff montiert haben. Und so einen guten Einstieg in die Debatten und Marotten dieser Zeit bieten.

Szene aus der Graphic Novel
(de Beauvoir) „Monsieur Fanon, Sie sollen wissen, dass heute etwas Außergewöhnliches geschehen ist.“
(Fanon) „Unser Treffen?“
„In gewisser Weise. Jean-Paul hat den ganzen Tag nicht geschrieben.“
„Indem er mir zuhört, schreibt er bereits.“
„Er ist jetzt müde, er muss sich schonen.“
(Sartre) „Gut, es ist spät. Das stimmt.… Wir setzen unsere Diskussion morgen fort.“


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