Thomas Biebricher,
Foto: Heike Steinweg / Suhrkamp

„In der Gesamttendenz würde ich schon sagen, dass man der deutschen Christdemokratie bescheinigen kann, dass sie letztendlich ihren Frieden mit der Demokratie gemacht hat.“

Rezension: Thomas Biebricher: Mitte/Rechts - Die internationale Krise des Konservatismus, Suhrkamp, 638 Seiten, 30 Euro.

von Tom Schimmeck

Konservatismus - das ist ein ziemlich weit und vage gefasster Begriff. Große, klassisch christdemokratische Parteien sind in Europa wie in den USA zerfallen oder nach rechts gedriftet. Thomas Biebricher hat die Krise des Konsveratismus gründlich studiert und neben drei Fallstudien – zu Italien, Frankreich und Großbritannien – auch ein paar generellere Überlegungen über Wesen und Werden des Konservativ-Seins vorgelegt, die auch für Deutschland zunehmend relevant werden.

Die, wie es im Untertitel heißt, "internationale Krise des Konservatismus" zu begreifen, ist keine Kleinigkeit. Schon, weil der Gegenstand so schwer zu fassen ist. Was bedeutet Mitte/Rechts? Wo genau bitte liegt rechts? Ist das Konservativ-Sein eine Geisteshaltung, eine Grundstimmung, eine Ideologie?

Biebricher: "Der Ausgangspunkt war ja: Gibt es eigentlich diese eine Dynamik, die sich an diesen ganzen Schauplätzen durchzieht und uns erklären kann, wie es zu dieser Krise des Konservatismus kommt?"

Thomas Biebricher, Professor am Institut für Politikwissenschaft der Uni Frankfurt, ist Experte für politische wie ökonomische Theorie und Ideengeschichte. Und damit eine gut gerüstete Fachkraft für die Inspektion des konservativen Überbaus. Und so krempelt der Autor in einer ausführlichen Einleitung erst einmal die Ärmel hoch – für eine gründliche Inspektion seiner Instrumente, Begriffe und Konzepte. Er testet etwa die beliebte These, dass einem "gemäßigt" konservativen politischen Lager, also einem Amalgam aus liberalen und konservativen Elementen, in dem Augenblick der Zerfall droht, da in einer Gesellschaft klar profilierte einerseits liberale, anderseits nationalkonservative Alternativen auftreten.

Die These, sagt Biebricher, sei nicht völlig falsch, aber auch nicht wirklich brauchbar. Die Dinge liegen komplizierter. Sind höchst verschieden. Es gehört wissenschaftlicher Mut dazu, Werkzeuge wegzuwerfen, die nicht wirklich taugen. Sympathisch ist es auch.

BUCHZITAT "In meiner Lesart ist der Raum des Konservativen aufgespannt zwischen einem substanziellen und einem prozeduralen Pol. Dazwischen bewegt sich unabhängig von spezifischen Kontexten die konservative Ideenwelt, und abgesehen von einigen Grenzfällen lässt sich jede Variante konservativen Denkens auf der höchsten Abstraktionsebene als eine je unterschiedlich gewichtete Kombination aus diesen beiden Komponenten beschreiben."

Am substanziellen Pol stellt sich die Frage, was den Konservatismus eigentlich ausmacht, was genau hier tatsächlich für konservierenswert erachtet wird. Vermutlich nicht der komplette Status Quo. Wobei ein geübter Konservativer diese Frage abschütteln wird mit der Berufung auf Sitten und Traditionen, auf den "gesunden Menschenverstand" und eine "gute Ordnung", die als natürlich und/oder gottgegeben empfunden wird. Gefolgt von dem Hinweis, dass Konservativ-Sein ja eben keine Ideologie sei, sondern ganz pragmatische, gleichwohl werte-gebundene Vernunft. Der Konservative wähnt sich stets auf dem Boden der Tatsachen. Die Ideologen – das sind immer die anderen.

BUCHZITAT "Entscheidend ist, dass all diesen Begründungsfiguren ein Moment der Unverfügbarkeit innewohnt. Ihre Pointe besteht darin, dass bestimmte Grundkoordinaten nicht zur menschlichen Disposition stehen"

beobachtet Biebricher und meint, dass die konservative "Normquelle" wie er sie nennt "noch präziser lokalisierbar ist,

BUCHZITAT "...indem man nämlich darauf abhebt, dass das Gute hier ausnahmslos aus einer wie auch immer gearteten Natürlichkeit abgeleitet wird. Das Natürliche, verstanden als das Gottgewollte, Menschengerechte oder geschichtlich Gewordene, ist letztlich das Bewahrenswerte und liefert damit einen normativen Maßstab, anhand dessen das Bestehende eingeordnet werden können soll. Eine normativ aufgeladene Vorstellung des Natürlichen beziehungsweise eine normative Natürlichkeit ist damit als Kernkonzept der substanziellen Komponente des Konservatismus festzuhalten."

Im Zweifel muss bei der Mobilisierung konservativer Energien der Feind helfen – beziehungsweise das Feindbild.

Eine Entdeckungsreise zum konservativen Kern führt oft in nebliges Terrain. Haltungstechnisch macht der Autor zwei konservative Grundtypen aus: Den die Moderne verbscheuenden Kulturpessimisten und den nonchalanten, viel flexibleren Pragmatiker. Im Zweifel, das wird später auch in den sehr viel konkreteren Länderportraits im Buch immer wieder deutlich, muss bei der Mobilisierung konservativer Energien der Feind helfen – beziehungsweise das Feindbild.

BUCHZITAT "Angesichts der zumeist nebulös bleibenden Ordnungsvorstellungen, die sich aus einer normativen Natürlichkeit herauslesen lassen, bleibt der Konservatismus also in gewisser Weise auf seine Gegner angewiesen, deren Angriffe die schemenhaften Vorstellungen überhaupt erst zu klaren Positionen und Gegenpositionen vereindeutigen."

Biebricher, emsig auf der Suche nach Sollbruchstellen und Fliehkräften dieser Denkungsart, hat den Anspruch, den Nebel zu lichten. Und uns einen tiefen Einblick in diverse Spielarten, Historien und Biotope von "Mitte/Rechts" zu führen. Jeweils rund 150 Seiten seines Buches widmet er drei Fallstudien, in denen er Aufstieg und Fall des Konservatismus in Italien, Frankreich und Groflbritannien in den letzten Jahrzehnten nachzeichnet. Jeweils in den 1990er Jahren beginnend. In Großbritannien mit Parteichef und Premier John Major, in Frankreich mit Präsident Jacques Chirac, in Italien mit der Implosion der ehemaligen Staatspartei Democrazia Cristiana und dem Aufstieg des Unternehmers und Medienmoguls Silvio Berlusconi.

Alle drei Länder-Analysen widmen sich eher dem "prozeduralen Pol" und erzählen eine jeweils sehr spezielle Geschichte des konservativen Niedergangs. Wobei der gemeinsame Nenner, das räumt Biebricher offen ein, nicht leicht zu entdecken ist. überall sichtbar werden eine radikalere Rhetorik, die auf Emotionen setzt und eine verstärkte Personalisierung. überzeugend ist vor allem der Detailreichtum dieser Analysen, der viele Kräfte, Facetten und auch die Absurditäten der politischen Prozesse sichtbar macht. Was sich oft wohltuend vom flotten Polit-Leitartikel abhebt. Wer es genauer wissen will, ist hier gut aufgehoben.

Und auch die Frage, warum der deutsche Konservatismus anscheinend anders funktioniert, wird von Biebricher immer wieder aufgeworfen. Das liege, erläutert Biebricher im Gespräch, zum einen daran, dass die CDU nach den deutschen Erfahrungen mit Nationalsozialismus und Weltkrieg anderen Prozessen ausgesetzt war.

Biebricher: "In der Gesamttendenz würde ich schon sagen, dass man der deutschen Christdemokratie bescheinigen kann, dass sie letztendlich ihren Frieden mit der Demokratie gemacht hat."

Und auch daran, dass die CDU mit Helmut Kohl wie mit Angela Merkel jeweils 16 Jahre konstant an der Macht war. In solchen Phasen großer Konstanz bildeten sich selten radikale Spitzen heraus.

Vor allem die bayerische Schwester CSU hätte in ihrer Geschichte immer wieder autoritäre Sehnsüchte erkennen lassen. Und auch heute sei eine Radikalisierung der Union noch am ehesten von einem politischen Charakter wie Markus Söder zu erwarten.

Biebricher: "Aber das ist nicht vergleichbar mit Leuten wie Sarkozy oder Johnson oder Berlusconi oder Matteo Salvini. Ich glaube, Söder ist der Einzige, der in die Liga spielen könnte. Aber das hat die CDU ja erstmal abgewendet."


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