Stillstand in Stendal

Tagtäglich trifft sich die Clique auf einem Parkplatz ihrer Kleinstadt. Ein verzweifelter Versuch, Bewegung in die verblühte Landschaft zu bringen

von Tom Schimmeck

Die Begrüßung ist rauh und zärtlich zugleich. Ganz klassisch klatschen die Handflächen ineinander. Doch während sie sich lösen, halten die Fingerkuppen noch Kontakt. Ein kurzes Streicheln, eine Vergewisserung. "Ey, du auch hier?" "Na klar."

Das ist unser "Ghettocheck", sagt Ratte, ein wacher, wortgewandter Typ. Auch ein kleiner Charmeur, der gerne einfließen läßt, wie schön die Mädchen der Clique doch sind. Die lächeln dann immer brav.

Ratte, 18, ist ziemlich genau halbe-halbe: Kindheit in der DDR, Jugend in Neudeutschland. Der Unterschied? "Markenklamotten und Supermärkte". Ersteres interessiert ihn nicht, zum zweiten hat er ein rein funktionales, zuweilen parasitäres Verhältnis. Dort besorgt er sich Nahrung und ein paar Accessoires. Das Deo etwa, das er jetzt aus dem Rucksack kramt, um seiner Nachbarin ein bißchen Männerduft zu verpassen. "IIh!", schreit sie.

Was sonst so los ist? "Autos, Bier, Kiffen und Abhängen", resümiert Ratte. Und natürlich "Beziehungskisten" – "Jaaa, das ist immer kompliziert", sagt er und reckt den Hals, um zwei frische Knutschflecken leuchten zu lassen.

Alles hängt davon ab, welchen Ausschnitt man wählt. Auch hier im Stadtseeviertel von Stendal, Sachsen-Anhalt, ein Arrangement aus ungeschlachten, rechteckigen Betonfertigteilen, zu drei- bis elfgeschossigen Wohnbauten aufgeschichtet. Man könnte sich zu den Punks gesellen, die eben die Straße heruntergeschlurft sind. Es würde ihnen wohl Freude machen, ein paar markige Sätze über Land und Leute abzusondern. Oder zu den jungen Russen, Verzeihung: Wolgadeutschen, die hier herumfahren und stets in irgendwelche Geschäfte verwickelt scheinen. An der Tankstelle fänden sich gewiß auch ein paar Glatzköpfe, die kraftvoll schildern würden, wie sie mit "Kanacken", linken "Zecken" und anderen Erzfeinden umspringen.

In dieser Clique aber geht es vergleichsweise beschaulich zu. Das Gros der Mädchen ist erst 14 und geht noch artig zur Schule. Doren zum Beispiel, die gerne Musik machen würde, Hiphop. Oder Denise, die davon träumt, eines Tages viel Geld zu verdienen und nach Amerika zu gehen, in die Einkaufsstraßen zwischen den großen Hochhäusern. Ansonsten zählen für sie nur Liebe, Jungs und eine "gute Lebenseinstellung", über die sie aber leider nicht verfügt: "Es interessiert mich alles nicht", sagt sie, mit einem Unterton des Bedauerns. Außerdem hat sie Angst: Angst, "verpelzt" (verprügelt) zu werden", Angst, "irgendwann alleine dazustehen". Selbst die Nachrichten machen ihr manchmal Angst.

Auch Sandy will "auf jeden Fall weg". Sie geht aufs Gymnasium, ihre Eltern haben beide Arbeit. Aber selbst Sandy hat nicht das Gefühl, daß ihre Zukunft eine breite Promenade ist. "Chancen? Nö", sagt sie, "man muß nehmen, was kommt." Die Clique nennt sie gern "Fidschi" oder "Tang Wang" – weil sie zufällig dunkle, glatte Haare und schmale Augen hat. Daß findet sie "nicht sonderlich schlimm". Als sie 10 Jahre alt war, hat eine besoffene Horde mit Steinen nach ihr geworfen und "Ausländer raus" gebrüllt. "Da war ich total fertig. Naja, ich seh' eben so aus. Pech."

Die Mädchen stehen oft etwas abseits und tuscheln miteinander. Das große Ganze ist weit weg. Politik? "Nee", sagt Doren. "Absolut nicht", meint Sandy. "Scheiße", schimpft die fesche Nadine, die schon 17 ist und tagsüber im Einkaufszentrum arbeitet. Sie schwärmt von "Geld und Liebe und Zärtlichkeit" und wartet auf den Märchenprinzen, der all dies zu bieten hat und sie hier herausholt. Die Jungs wirken in ihrer Nähe alle etwas aufgekratzt.

Die Clique, an die 50 Jugendliche, trifft sich auf einem kleinen Parkplatz vor der großen grauen Wand des "Altmark Forums". Das Pflaster ist hart. Sie hocken unter Fahnen, die "Einkaufen und Spaß für die ganze Familie" verheißen und gucken auf die Stadtseeallee, die früher die Leninallee war und bei ihnen nur "der Highway" heißt. Alles wird geteilt: Zigaretten, Bier und Süßigkeiten. Der Hausmeister kehrt morgens den Dreck weg, den sie hinterlassen.

Es wäre bequemer, auf den Bänken gleich um die Ecke zu sitzen, im Zentrum des Neubauviertels. Ein stilles Plätzchen, gesäumt von einem Griechen, einem Bäckerladen, einer Apotheke und der Polizeilichen Beratungsstelle. Im Fenster hängen Fotos von scheußlich zermalmten Kleinwagen. Drinnen vergilben Broschüren mit Titeln wie "Sicherheit für Senioren" und "Schützen Sie sich vor Taschendieben".

Aber der Parkplatz am Highway hat Vorteile: Hier können die Autos der Älteren stehen, in denen man Musik hören und quatschen und knutschen kann. Hier produzieren sie ein permanentes Gewusel – ein kollektiver Versuch, ein bißchen Bewegung in diese todmüde Kulisse zu bringen. Sie kommen und gehen, solo oder in Grüppchen. Autos fahren vor und brausen quietschend wieder los. Musik geht an, wieder aus, wieder an. Sie plaudern, sie klopfen Sprüche. Selbst die Ampeln und der Verkehr fungieren als willkommene Sinnesreize.

Die Jungs, etwas älter, sind in einer prekäreren Lage: Das erwachsene Leben beginnt, die Gefahr eines Fehlstarts ist groß. Was ist wichtig im Leben? "Weiß ich doch nicht", brummt Dennis, 18, der Maurer gelernt hat und nun arbeitslos ist. Er lebt von 800 Mark Arbeitslosenhilfe in einer Ein-Raum-Wohung – exakt 35,6 Quadratmeter und macht "eigentlich nischt", ißt nur "manchmal bei McDoof einen BSE-Burger". "Wenn ich mit 30 nicht verheiratet bin", sagt er, "bring' ich mich um."

Auch Maik, 23, sucht Arbeit. Bund, Lehre und ABM hat er schon absolviert. Seine rechte Hand hat er nur noch 30 Prozent Kraft, weil er sich einmal einmischte, als ein Kerl mit einer Eisenstange auf seine Familie losging. Man hat ihm einen Job für 6 Mark die Stunde angeboten, plus unbezahlte Überstunden. "Das ist friß oder stirb", flucht er. "Am besten ist man 18, hat 40 Jahre Berufserfahrung und will nur eine Mark Lohn."

Smash, ein zerbrechlich wirkender 17jähriger mit orange gefärbtem Haar, hat keine Lehrstelle mehr, weil er "ein bißchen Mist gebaut hat". Er fürchtet, es nicht zu packen und als Hilfsarbeiter zu enden. So wild er aussieht, so bürgerlich sind seine Werte: "Kohle verdienen, ein Haus, eine Frau und Kinder – das gehört ja wohl dazu". Ein Kumpel lacht. "Das ist nicht spießig", ruft Smash leicht beleidigt, "das ist ein Traum."

Nicht alle haben eine Niete gezogen. Das sind die beiden Thomasse. Der eine, 23, arbeitet als Stanzer und ist mächtig stolz auf seinen schwarzen, tiefergelegten Polo mit Überrollbügel und roten Gurten. Der andere ist seltene Mischung aus Chaos und Entschlossenheit: Ein großer, schlaksiger Skin, der die PDS "ganz in Ordnung" findet. Den Realschulabschluß hat er mit einem Durchschnitt von 1,2 bestanden. Jetzt lernt er den Traumberuf aller Jungs – KFZ-Mechaniker, in Uelzen, also im Westen. Am Wochenende kommt er heim, um die Freunde zu sehen.

Die Stadt Stendal geht mit einem DVU-Ergebnis von knapp unter zehn Prozent für sachsen-anhaltinische Verhältnisse fast schon als "gemäßigt" durch. Aber das politische Fundament ist dünn. Der erste CDU-Bürgermeister war ein West-Import, die örtliche SPD ist aus dem Domchor entstanden. Die meisten Jugendlichen "sind DVU oder PDS", glaubt Ratte. Oder einfach apathisch.

"Ich habe keine Ahnung, was rechts und links ist", erklärt Smash. "Wählen ist gehupft wie gesprungen", meint Maik und gedenkt wehmütig der FDJ. "Da war ein Zusammenhalt. Man hatte 'ne schöne Jugend. Da würden wir jetzt nicht hier auf dem Pflaster sitzen sondern in irgendeinem Ferienlager." Nadine grinst: "Ja, die DDR war cool, da hatten alle Arbeit." Sie legt die Rechte an den imaginären Mittelscheitel und deklamiert: "Seid bereit, immer bereit, ich melde die Klasse 1A zum Unterricht bereit." Alle lachen.

"Es ist manchmal deprimierend", sagt Ratte, der "eher so die linke Schiene" vertritt. Er malt ein Horrorgemälde: Saufende Eltern, mutlose Kinder, Polizisten, die gerne mal zuschlagen. Ratte ist zu Hause rausgeflogen und jetzt mit dem Rucksack unterwegs. Er ist bereits achtmal verhaftet worden. Warum? "Ach", sagt er sanft, unterwegs werde er "manchmal flippig": "Man macht Scheiße und es ist egal, ob man verknackt wird. Wir sind dem Staat scheißegal und er uns auch."

Er habe ja Glück gehabt, findet Thomas, der Skin, schon reichlich betrunken – das Firmenklima sei "total top", die Eltern "voll super". "Aber Lethargie kotzt mich an." Schon früher, als er noch auf Heroin war, habe er versucht, Altersgenossen zu aktivieren: "Wenn man was aus seinem Leben machen will, muß man auch wissen, was man wählt. Im Endeffekt sind es ja wir, die abkacken".

Es ist dunkel geworden. Die Reste der Clique hocken weit nach Mitternacht im fahlgelben Licht der Straßenlampen. Die Mädchen schweigen. Smash schläft in einem Auto. Eine cooler Techno-Song läuft: "Living in a dream". "Eigentlich ist das doch ein schönes Leben", murmelt Ratte müde, "so mit Alkohol und Drogen und Frauen."

© Schimmeck