Schütze Scharping

SPD-Fraktionschef Rudolf Scharping wird ins Verteidigungsministerium abkommandiert. Der Mann ist Schmerzen gewohnt


von Tom Schimmeck 

Warum er sich das alles antut? Rudolf Scharping reckt sich im Stuhl: "Vor drei Jahren hätte ich mit der Frage noch nichts anzufangen gewußt", sagt er und lächelt fast schelmisch dazu. Tatsächlich: Vor drei Jahren noch war dieser Mann ungebrochen. Ein Funktionär im engsten Wortsinn: Einer der zu funktionieren gewohnt war und von seiner Umgebung Funktionieren erwartete.

Gewiß, die Bundestagswahl '94 war verloren gegangen. Viele meckerten über "Ziege" Scharping, den Langweiler, witzelten über seine rukkeligen Auftritte, die Grimassen, die Musterschülerrhetorik.

Aber dies alles focht ihn nicht an. War er nicht ein prima Enkel? Der Absolvent einer makellosen Parteikarriere? In Mainz hatte er die CDU entmachtet, "Gottvater" nannten sie ihn dort. Er sah sich als eine Art Clinton aus der Pfalz. Nun war er doch gerade erst ein Jahr in Bonn. Rudolf Scharping glaubte an sich und seine zweite Chance.

Aber es ging alles zu schnell. Im Nu war er vom Nobody zum Hoffnungsträger geworden, rasanter noch stürzte er wieder ab. Daß Oskar Lafontaine ihn am 16. November 1995 in Mannheim wegputschte, hat ihn kalt erwischt. Erst haben sie ihn massakriert und dann ganz doll applaudiert, weil er so tapfer war. Wacker kandidierte er als Parteivize, durfte den Fraktionsvorsitz behalten, der treue Rudolf, der gute Rudolf.

A diesem Montag sitzt er wieder da und guckt sehr tapfer und beherrscht. Es war ein harter Tag. Oskar hat erneut zugeschlagen: Jetzt ist auch der Fraktionsvorsitz weg. Allmählich muß der Pfälzer den Eindruck gewinnen, daß er dem Saarländer im Wege ist.

Und doch ist es ganz anderes als beim letzten Mal. Zum einen, weil Rudolf Scharping längst nicht mehr so naiv und selbstverliebt ist. Nach Mannheim hat er noch eine ganze Weile weiterfunktioniert. Gut ein halbes Jahr später aber verunglückte er, überschlug sich mit dem Fahrrad und knallte auf den Hinterkopf, so heftig, daß er froh sein konnte, überhaupt wieder wach zu werden. Er lag da und hatte Zeit und Anlaß nachzudenken: Über das Leben, die Partei, über Mannheim und das Funktionieren. "Ich wage keine Einschätzung darüber, wie ich damit ohne diesen Unfall umgegangen wäre."

In seinem Noch-Dienstzimmer lehnt ein Foto am Schrank: Ein wirklich entspannt lächelnder Scharping mit blitzenden Augen, aufgenommen drei Wochen nach dem Unfall. "Das steht da als Mahnung", erläutert er, das könne er vom Schreibtisch aus betrachten und sich sagen: "Da hast du begonnen, dir was zu überlegen, da hast du begonnen, Einstellungen zu verändern" Ð die eigenen Prioritäten betreffend, und das Verhältnis zu anderen Menschen.

Seither fällt es ihm nicht mehr ganz so schwer, auch mal Gefühle zu zeigen, eigene Schwächen zu erkennen. Wie verrückt und verblasen wird man auf dem Weg an die Spitze ?Es ist ihm nicht entgangen, daß auch er sich gerne mal für den Größten hielt: "Ich glaube, ich bin damals manchen Leuten auf den Geist gegangen, weil ich sie das hab' spüren lassen."

Aber Ð das reklamiert er für sich Ð er habe "im Laufe der Jahre gelernt, mit meinen Überlegenheitsgefühlen zurückhaltend umzugehen", sagt Scharping, "insofern ist Bonn eine gute Schule." Heute zeigt er mehr Distanz zum Betrieb: "Ich empfinde mich mehr als politischer Mensch denn als Politiker." Er zitiert manches Dichterwort, er redet von wiedergefundener echter Freude. "Das ist schööön", sagt er mit ganz weichen Gesicht. Es sind halt doch die Brüche, die den Charakter formen.

Was diesmal noch anders ist: Daß es beiden weh getan hat, Lafontaine vielleicht mehr als ihm. Nein, Scharping versucht jetzt nicht, sich als Sieger aufzuspielen. Aber er will auch nicht der Looser sein. Er hat ein bißchen verloren, Lafontaine hat auch ein bißchen verloren. Und die Partei staunt, wie dämlich der Saarländer das angestellt hat. Der hat einen Teilerfolg errungen Ð die Entfernung Scharpings aus einer strategisch wichtigen Position. Der Preis war eine furchtbare Demaskierung: Gestern noch der gute Onkel, der ruhmreiche Retter der Partei und Wegbereiter des Wahlsiegs. Heute schon wieder der häßliche Stalinist, der eiskalt nur um die eigene Macht kämpft.

Worum es eigentlich ging? Die Beobachter rätseln. Nagte die Frage an Lafontaine, ob er diesen Sieg nicht doch selber hätte erringen können? Hatte der Parteichef plötzlich Angst, alle Zügel zu verlieren? Was immer ihn bewegt hat Ð er wurde hektisch und rabiat, machte plötzlich jede Menge Fehler: Er erklärte das ihm ergebene Präsidium zur Verhandlungsdelegation für die Koalitionsverhandlungen und düpierte damit viele Fachleute der Partei. Er versuchte, sich ein Superministerium zusammenzuschustern. Er wollte der Fraktion einen Vorsitzenden und einen Bundestagspräsidenten aufdrücken.

Nicht nur das Gros der Genossen hatte geglaubt, daß die Freude am Sieg vorhält, daß das Duett Schröder-Lafontaine noch eine gute Weile singt. Umso größer war die Überraschung, daß "der Oskar" schon in Woche zwei wie ein Urmensch beweisen mußte, daß seine Keule die größte ist. Besteht Politik letztlich aus so archaischen Ritualen, Herr Scharping? Das Terrain markieren, Schlagen und Geschlagen werden Ð und dabei immer schön lächeln? Scharping weicht aus. "Es trifft mich nicht unvorbereitet", sagt er und korrigiert sich gleich: "Nein, es trifft mich überhaupt nicht."

Ein paar Tage lang hat Scharping auf stur gestellt. Am Mittwoch kritisierte er im Präsidium den Stil Lafontaines als "nicht opportun". Oskar drohte immer wütender. Rudolf sträubte sich lautstark. Unermüdlich ließ er seine Verdienste in Bonn und sein Engagement im Wahlkampf (111 Einsätze) aufzählen. Er glaubte sich das erlauben zu können: Das Gewissen der Partei war wegen Mannheim immer noch ganz schlecht. Die Fraktion stützte ihn, wenn auch nicht nur aus nacktem Enthusiasmus; zudem war sie empört, daß der Parteichef so frech in ihre Belange regierte.

Als Schröder aus Washington wiederkam, roch er den Brandgeruch. Und schlüpfte in eine Rolle, in der ihn noch keiner sah: Die des Schlichters und Retters. Sein Kommando: Alle Mann ins Kabinett! Lafontaine, Scharping und Müntefering gehorchten. Und Deutschland staunte.

Ist Scharping nun resigniert? "Nö", sagt er und man soll es ihm abnehmen. Natürlich wäre er gerne Fraktionschef von 298 Abgeordneten gewesen, befaßt mit allen Themen der Politik, frei vom Zwang des Kabinetts. Bis Montagmittag hat er durchgehalten, dann mußte er einknicken, um nicht alles zu verlieren. Der Mann will ja noch was, schließlich ist er kein Polit-Rentner, sondern der Benjamin der toten Troika. Er sei nicht schuld an dem Theater, beteuert er nun, er habe die Debatte nicht ausgelöst. Auch sei es doch bedauerlich, fügt er listig hinzu, daß der wunderbare Wahlerfolg jetzt "leider ein bißchen beschädigt worden ist."

Nein, Scharping ist nicht am Ende. Er hat Illusionen verloren, und Überdruck abgebaut. Aber er findet sich immer noch ziemlich gut. Er will auf keinen Fall das fünfte Rad am Wagen sein. Schade eigentlich, daß er gleich wieder so anachronistisch wirkt, so zinnsoldatisch daherkommt, wenn die Nachdenklichkeit geht und der Ehrgeiz zurückkommt, wenn er wieder in die Rolle des fleißigen, loyalen Rudolf schlüpft. Ein Politologe hat einmal geschrieben, Scharping hätte eigentlich besser in die 50er Jahre gepaßt.

Vielleicht hilft ihm der Glaube, daß Lafontaine noch drückendere Alpträume hat als er. Gewiß hilft ihm die Tatsache, daß sein Verhältnis zum einstigen Erzfeind Schröder bereinigt ist. Politisch sind sie ohnehin nicht über Kreuz. Im Niedersachsen-Wahlkampf, erzählt Scharping stolz, habe er "trotz einer ziemlich üblen Hepathitis" 30 Termine absolviert. Und er läßt durchblicken, daß er als Chef der Antragskommission auf zwei Parteitagen einige Steine wegräumen half, die man Schröder in den Weg legen wollte. Sie haben sich ausgesprochen.

Rudolf Scharping ist jetzt auf der Hardthöhe gelandet. Man kann tiefer fallen. Ist nicht auch Helmut Schmidt einst aus dem Fraktionschefsessel ins Verteidigungsministerium gewechselt? Da lacht er sehr laut. Georg Leber, der den Job nach Schmidt hatte, hat schon angerufen und gesagt: "Glückwunsch! Ich muß dir was von meinen Erfahrungen erzählen." Scharping erzählt es, als ob er das alles noch nicht recht fassen kann.

Der junge Scharping hat nur ein halbes Jahr "gedient", obwohl er sich für zwei Jahre verpflichtet hatte. Seine Brillenstärke vertrug sich nicht mit den militärischen Anforderungen. Aber er wird trotzdem auf die Hardthöhe passen. Der Sozi hat sich nie als 68er gesehen: "Ich habe damals nicht Studentenpolitik gemacht, sondern Kommunalpolitik." Er findet ohnehin, daß viele 68er das "zivilisierte Zusammenleben aufgeklärter Menschen" diskreditiert hätten. Wen er damit wohl meint?

Am Ende dieses wilden Montags bricht dann doch Galgenhumor aus. Ein Freund kommt in sein Büro und nimmt ironisch Haltung an. Da salutiert Scharping ganz fröhlich und meldet: "Schütze Scharping!".

© Schimmeck