1999

Angriff auf dem Bauchraum

Verzückt heizt Hessens CDU Spitzenkandidat Roland Koch das Thema Doppelpaß an. Es soll den Sieg bringen. Und das Volk hat verstanden

von Tom Schimmeck 

Die Bauern im hessischen Kleinkrotzenburg, nur wenige Meter vom Freistaat Bayern entfernt, sind für gewöhnlich ganz bedächtige Zeitgenossen. Routinierte Appelwoi-Trinker, die oft "richtig" und "genau" und "jawoll" sagen.

Und eigentlich sind die Landwirte geladen, um mit CDU-Spitzenkandidat Roland Koch über Beihilfen, Ausgleichsflächen und die Gülleverordnung zu reden. Doch heute kreisen die Gespräche fast ausschließlich um den Doppelpaß. "Es geht nicht um die Spanier oder Italiener, es geht um die Türken", sagt ein Alter. Die Umstehenden nicken heftig. Sein Nachbar nestelt eine Zeitungsnotiz aus der Westentasche, der zu entnehmen ist, daß man in Saudi-Arabien keine Bibel besitzen darf: "Ja, so isch es do."

Sie sind dankbar, daß endlich mal einer öffentlich sagt, was sonst nur halblaut in Kneipen und Kaffeekränzchen zur Sprache kommt: Daß das "so nicht weitergeht". Und dazu noch so ein adretter Jurist aus ihrer großen Christenpartei. Nein, da muß man wirklich keine Sorge haben, in schlechter Gesellschaft zu sein.

Als Kandidat Koch endlich eingetroffen ist, spricht er lange nur über die Sorgen und Nöte der Landwirtschaft unter der rotgrünen Knute. Man wird schon ein wenig ungeduldig. Schließlich drängen ihn die Zuhörer, doch endlich "auch was zu der doppelten Staatsbürgerschaft zu sagen".

Koch lächelt, nippt noch einmal an seiner Coca Cola und liefert einen Schnelldurchgang – er ist in Eile. Dieses Gesetz habe "Folgen für ganze Generationen", erklärt er, in zehn Jahren könnte es in Deutschland 10 bis 15 Millionen Doppelstaatsbürger geben. 45 000 Unterschriften hätte die CDU in Hessen am ersten Tag gesammelt, eine "gigantische Zahl". Das sei "der Anfang des Signals". Jetzt gelte es, "ruhig und besonnen zu bleiben, aber auch konsequent". Denn die Sozialdemokraten "müssen Angst haben, die Mehrheit der Bevölkerung zu verlieren".

Auch beim nächsten Auftritt, im faschingsgeschmückten Festsaal von Bürstadt, spart sich Koch den Bonbon bis zum Schluß auf. Als "Anwalt von mehr als 60 Prozent der Deutschen", ruft Koch, kämpfe er gegen die Doppelstaatsbürgerschaft. Das sei eine "demokratische Meinung". Und auch hier kommt erst jetzt Stimmung auf. "Genau", echot ein Senior und berichtet, daß ein Kollege gerade in der Türkei war. Sein Resümee: "Da herrscht Ordnung und die verbrecher sind hier." Koch zieht ein bißchen an der Handbremse. Man solle das "mit möglichst wenig Emotionen diskutieren", rät er, dann könne daraus "eine machtvolle Demonstration werden".

Aber den CDU-Funktionären, brüllt ein Dicker aus der letzten Reihe, "muß man jetzt in den Hintern treten, damit sie richtig loslegen". Nein, er sei kein Ausländerfeind, beteuert der pensionierte Lehrer später mit hochrotem Kopf. Seine drei Ärzte seien Ausländer, er sei auch "judenfreundlich" und habe "von den Nazis Schläge gekriegt". Aber der Kohl habe nicht zuletzt deshalb verloren, "weil dieses Thema nicht diskutiert wurde" und die Kirchen würden "auch immer liberaler". "Der Zeitgeist", stöhnt er, "der macht uns kaputt."

Jetzt ist "dieses Thema" also da. Jetzt kann der Bürger im warmen Schoß der Wohlanständigkeit agieren, ohne gleich als brauner Brandstifter zu gelten. Ganz bürgerlich, ganz ordentlich. Da wirkt die Wut beinahe hygienisch.

Ein paar CDU-Feingeister mögen Bedenken ob der Form gehabt haben. Aber der Widerstand in den eigenen Reihen ist gebrochen. Selbst Frankfurts CDU-Oberbürgermeisterin Petra Roth, die als liberal gilt, segnet die Unterschriftensammlung nun "absolut legitime Aktion zur Meinungsbildung und Aufklärung der Bevölkerung". Eine Debatte um diese Aktion im Frankfurter Stadtrat hat ihre Partei vergangene Woche per Sperrminorität verhindert.

Die Schlacht gegen den Doppelpaß hat der CDU ein etwas mulmiges, aber starkes Wir-Gefühl beschert. Manche mögen ein bißchen irritiert sein, sich fragen, ob sie die Schleuse wieder zukriegen, die sie da aufgemacht haben. Aber ist es nicht herrlich, an den Infotischen in den zugigen Fußgängerzonen plötzlich furchtbar gefragt zu sein, dankbar angelächelt und angefeuert zu werden? "Endlich mal eine Kampagne, die für uns läuft und nicht gegen uns", frohlockt Landesgeschäftführer Seitz.

Auf der Frankfurter Zeil wurden am Samstag binnen fünf Stunden 3350 Unterschriften gesammelt. "Hohe Mobilisierung, Anfrage enorm", meldet auch der Kreisverband Offenbach-Land. Ständig riefen Leute an, um Unterschriftenlisten anzufordern, gerade auch Nicht-Mitglieder. Die Zettel lägen in Apotheken und Tankstellen aus, würden bei Geburtstagen und in Zügen herumgereicht. Manch einer zöge mit den Listen "spontan von Haus zu Haus".

"Das ist ein demokratisches Ventil", sagt ein junger CDU-Funktionär im Main-Taunus-Kreis. "Egal, welche Motivation beim einzelnen dahintersteht, bei uns kann man sicher sein, daß da was sauberes herauskommt."

CDU-Spitzenkandidat Roland Koch ist kein simpler Haudrauf, auch wenn seine Rhetorik oft keinen Hehl daraus macht, daß er aus dem Stall der Dreggers und Kanthers kommt. Gewiß hat er die Aktion innerlich durchgerechnet, die Risiken und Chancen abgewogen. Und dann alle Zweifel ausgeknipst, weil er weiß: Wenn er überhaupt gewinnen kann, dann nur so. "Wahlkämpfe", erklärt Koch nach einem langen Kampftag mit einem schelmischem Blick, "müssen auf der Spitze der Bewegung geführt werden".

Er könnte auch anders, aber das erscheint ihm gerade gar nicht opportun. Bislang hatte der ehrgeizige Kandidat seinen Angriff auf Rot-grün vor allem mit den Themen Bildung (Slogan: "Unterrichtsgarantie") und Innere Sicherheit (Slogan: "Hart durchgreifen!") geführt. Er kam recht schlagfertig daher und hat auch ein paar Emotionen geweckt. Wer Koch ein halbes Stündchen schenkte, wurde jäh vom Bedürfnis gepackt, nach Bayern auszuwandern Ð weil man dort technikfreundlich ist, viele Verbrecher fängt und auch die Schulen viel besser sind.

Doch die Argumente waren doch ein bißchen diffizil, die Resonanz recht mäßig. Die Chancen der CDU, die so sehnsüchtig nach einem Neuanfang lechzt, waren mies: Im Dezember verhießen Umfragen Hessens rotgrüner Regierungskoaltition 59, Koch dagegen karge 35 Prozent.

Da besann sich der bekennende "Kohlianer", daß er stoibern kann. Er hat den Wahlkampf tiefergelegt, vom Kopf in den Bauch, dahin, wo das Diffuse zuhause ist, die Angst und die Wut. Sollen SPD, Grüne und FDP doch schreien, sollen Kirchen, Gewerkschaften und Ausländerbeiräte ihre Bedenken anmelden. Roland Koch sieht sich wahren Kämpfer gegen Rechtsradikalismus – weil er nun "offen" und "ehrlich" und "fair" über die Probleme rede.

Kritiker werden forsch abgefertigt: "Die gleichen Leute, die in den siebziger Jahren Molotow-Cocktails gegen Polizisten werfen ließen", kontert Koch kühl, "regen sich jetzt auf, wenn eine große demokratische Partei Unterschriften sammelt." Eine Gruppe von türkischen Journalisten fragt er am Montag frech, ob sie denn eine Demonstration im Bonner Hofgarten oder eine Volksabstimmung besser gefunden hätten.

Nein, jetzt ist nicht die Zeit für halbe Sachen. Die Christdemokraten wittern eine echte Chance. Jetzt, frohlockt Koch, "reden wir über ein Thema, bei dem 50 Prozent der SPD-Wähler unserer Meinung sind". Energisch fegt er Bedenken zur Seite: "Ich bin optimistisch, daß wir die Balance halten können." Es klingt ein wenig nach Mutprobe, wenn der einst als "junger Wilder" etikettierte Mann forsch verkündet: "Ich bin keiner, der sich dreimal absichert, bevor er etwas macht."

Koch will nicht diskutieren, er will gewinnen. So bleiben die Ziele diffus, das Wort "Integration" wird zum Kampfbegriff. Immer häufiger ist mit Integration nicht mehr die Verschmelzung verschiedener Kulturen gemeint, sondern die Forderung nach Anpassung an das deutsche Wesen. Auch im vergangene Woche fertiggestellten Grundsatzpapier "Integration und Toleranz" von CDU-Vize Jürgen Rüttgers taucht das Wort 41 mal auf. Das Papier, das manch guten Vorschlag enthält, wirkt beim Thema Staatsbürgerschaft gewunden und seltsam nebulös. Für einen Paß verlangt die CDU eine "nachweisbare Integration und Sozialisation beim Einbürgerungsbewerber" und eine "eindeutige Hinwendung zur Bundesrepublik Deutschland" Wodurch wird die bewiesen? Dadurch, daß man einen Wohnzimmerschrank hat, Allianz-versichert ist und den "Musikantenstadl" liebt?

Offiziell, dabei muß die CDU bleiben, geht es nur um die Ablehnung einer doppelten Staatsbürgerschaft. Und so betont Koch bei jeder Gelegenheit artig, natürlich seien auch "Gäste" ohne deutschen Paß in Deutschland willkommen und würden respektiert. Aber weil ja alles mit allem zusammenhängt, geht es dann doch ums ganze Abendland. Koch führt die Sprachprobleme ins Feld, sorgt sich um die Lage der türkischen Frau, die Ghettobildung in den Großstädten, verlangt auch unbedingt, daß "in Deutschland weiter Kirchenglocken läuten und nicht Muezzine rufen". Das CDU-Flugblatt füttert, fettgedruckt, die noch fehlenden Stichworte nach: "Gespaltene Loyalitäten", "Einfallstor für Zuwanderung", "Gewaltpotential", "Gefahr", "Interessen fremder Staaten", "islamischer Fundamentalismus".

So sind Erwartungen geweckt, die weit über eine Verhinderung der doppelten Staatsbürgerschaft hinausgehen. Die Botschaft ist sofort angekommen. Die CDU bedient die Angst vor der großen weiten Welt, vor Krisen, Kriegen und Globalisierung. Eine Angst, die zu groß und zu wenig greifbar und sich deshalb längst ein naheliegenderes, identifizierbares Ziel gesucht hat: Die größte Gruppe der Immigranten, die Türken in Deutschland. Bei allen Veranstaltungen, an allen Infotischen hört man es heraus. "Das ist nicht unsere Kultur", "Die gehören nicht nach Europa", heißt es immer wieder, "die sind doch kriminell." Als am Montagabend eine junge Türkin wagt, dem Redner Koch lautstark zu widersprechen, knistert es förmlich im vollbesetzten Saal. "Unverschämtheit!", "Ruhe!", "Rausschmeißen!", rufen die Zuhörer. "Die läbt doch sischer von unserem Geld", zischt eine Frau.

Es sind nicht nur ein paar Senioren, die so reden. Nach der Veranstaltung versammelt sich eine Gruppe Jugendlicher auf der Straße, um die lange Koch-Rede ein wenig nachwirken zu lassen. Sie fürchte sich vor den jungen Türken, sagt ein junges Mädchen. "Die werden hier bald alle möglichen Parteien gründen", glaubt ein Junge. "Und immer mehr werden", sagt ein anderer. "Das Deutschsein", findet ein dritter, der gerade 18 geworden ist, "wird durch die doppelte Staatsbürgerschaft abgewertet. Außerdem ist es unfair: Die haben dann mehr als ich."

Hat er Angst? "Ja!", sagt er, "klar!"

© Schimmeck