TOM SCHIMMECKs ARCHIV
16.4.1999 Die Woche

Vor 10 Jahren geschrieben
- und er isses immer noch.

Der halbe Kopf

Deutschlands schrille Tageszeitung, die Berliner “taz”, wird 20 Jahre alt. KARL-HEINZ RUCH, ihr Krisen-Manager seit der ersten Nullnummer, bevorzugt die Stille.

von Tom Schimmeck

Der Chef ist kein bunter Vogel, er wäre das Waterloo für jeden Talkshow-Heini: Kein bisschen verrückt wirkt er, wortkarg und wenig prägnant. Und sieht wie ein verspäteter Student der Betriebswirtschaft aus, wie einer, der einen Hobbykeller hat, mit Modelleisenbahn.

Dabei macht Karl-Heinz Ruch (45), hausintern nur “Kalle” genannt, den vielleicht haarigsten Manager-Job, der sich in Deutschland denken lässt: Seit 20 Jahren wirkt er als Geschäftsführer der Berliner “Tageszeitung”. Die “taz” hat Hunderte von Talenten geboren, verschlissen und verjagt, doch einer war immer und immer da: Kalle, sehr still, sehr stur, sehr effizient.

Das Blatt, seit der Gründung von “Bild” anno 1952 Deutschlands einzige gelungene Neugründung einer überregionalen Tageszeitung von Bedeutung, ist ein Geschöpf des deutschen Herbstes, jener bleiernen Zeit der RAF und der Krisenstäbe, als viele, die links dachten, das Gefühl hatten, unter einer Grabplatte zu leben. Zwischen Flensburg und München trafen sich Initiativen zur Schaffung eines neuen Organs, das frei sein sollte, ganz neu und radikal, ein Sprachrohr für alle Opfer und Kritiker des ziemlich verhassten Modells Deutschland. Hunderte diskutierten damals heiß um die guten und wahren Inhalte. Genau drei Leute kümmerten sich um Finanzen, Technik und Vertrieb des verrückten Projekts.

Einer davon war Ruch. Als er Ende 1977 in die Berliner “taz”-Initiative kam, hatte er wie alle anderen null Ahnung und Erfahrung, aber immerhin Volkswirtschaft studiert, sogar Examen gemacht. Zumindest abstrakt war Kalle also mit einer Sache in Berührung gekommen, die alle anderen weder kannten noch hatten: Geld oder Kapital oder wie das heißt.

Um so was, weiß Ruch, mochten sich linke Kreise nie kümmern – “das war schon immer so”. Also ist er in die Lücke gesprungen und hat sich dort eingerichtet. Das war oft nicht gerade bequem. Kein Mäzen, keine Partei, ja nicht mal der Osten hat einen Pfennig dazubezahlt. Der “taz”-Verlag begann als eine höchst wacklige Konstruktion verschiedener GmbH & Co. KGs, die im Wesentlichen von den Vorauszahlungen künftiger Abonnenten lebte. Als die “taz”-Crew im April 1979 mit der täglichen Produktion begann, hatte kaum einer Hoffnung, dass das Abenteuer lange währen würde. Im Scherz versprach man Kalle, ihm Päckchen in den Knast zu schicken, falls die Sache schief ginge.

Doch das linke Projekt war robuster als vermutet. Die ersten zehn Jahre lebte es vor allem von der Berlin- Förderung. Die Auflage wuchs nur mäßig, die Gehälter waren erbärmlich. Inhaltlich aber war die Sache ein Selbstgänger: Die Friedensbewegung boomte, Ökologie war in, die Grünen gediehen und kamen in den Bundestag. “Wir haben mit den Bewegungen gelebt”, sagt Ruch – wenn auch immer hart am Exitus.

1989 kaufte die Zeitung eine Doppel-Immobilie im alten Berliner Zeitungsviertel Kochstraße, direkt an der Mauer, nahe beim Checkpoint Charlie und dem Springer-Verlag. Ein echter Glücksgriff, denn kurz darauf kam die Wiedervereinigung. Das neue “taz”-Domizil lag nicht nur hübsch im neuen Zentrum der neuen Hauptstadt, es war plötzlich auch ein Vielfaches wert. Wer die Idee hatte? “Ich natürlich”, sagt Ruch.

Als stille Reserve rettet die Immobilie schon lange die Bilanz des Unternehmens. Denn die “taz” bekommt noch immer keine Darlehen, die Verluste sind doppelt so groß wie das Kapital. Finanziert werden sie wie eh und je aus den Vorauszahlungen für die Abos. Und in der Bilanz stehen die Immobilien dagegen.

Aber so genau will das bei der “taz” kaum einer wissen. Für den Blick in den Abgrund war immer Kalle zuständig, auch für den optimistischen Blick danach. Wenn das Ende mal wieder hautnah kam, rief die Zeitung gern laut Hilfe, flehte um neue Abonnenten und drohte mit dem eigenen Tode, um alte Leser-Loyalitäten zu wecken. Gelegentlich, meint Ruch heute kühl, “musste man die Basis ein bisschen ausschöpfen”. Das sei natürlich “ein Spielchen mit dem Leser. Aber die FDP macht das doch auch so, und sehr effektiv.”

So hat der Geschäftsführer stets in dem festen, beruhigenden Glauben gelebt, dass von irgendwoher ein Lichtlein kommt – “weil ich immer gewusst habe, dass die ‚taz” von ihrer sozialen Basis lebt und diese groß genug ist – obwohl das Blatt ganze Lesergruppen vergrault hat”. Das zweite Jahrzehnt war gleichwohl viel schwieriger. Die Berlin-Förderung war futsch, die “taz” machte noch mehr Miese. Eine Gruppe von Machern aus der Redaktion war es schließlich leid, sich ewig von Krise zu Krise zu hangeln. Sie wollte das Blatt verkaufen – unter Wahrung weitgehender Unabhängigkeit. Ein paar Millionen nur, argumentierten sie, und wir könnten endlich einmal richtig loslegen und auch noch halbwegs anständig verdienen.

Der Vorstand verhandelte schon, doch Ruch & Co waren strikt dagegen. Die “taz” passe in keinen deutschen Verlag, fand er, als Teil eines Konzerns müsse sie zwangsläufig untergehen – nicht nur, weil dann alle entsprechende Gehälter verlangt hätten und Karl-Heinz Ruch überflüssig geworden wäre. Die “taz”, sagt der Geschäftsführer, sei doch “mehr ein soziales Experiment als ein publizistisches”, ein “Platz für Triebtäter”. Also zauberte er gemeinsam mit dem Linksanwalt Christian Ströbele, auch ein “taz”-Organisator der ersten Stunde, ein Genossenschaftsmodell auf den Tisch. Die Zeitung sollte im Besitz der Belegschaft und der Leser bleiben. Der Plan siegte. 1991 ging das Organ in genossenschaftlichen Besitz über. Das Modell, meint Ruch, “bewährt sich immer mehr”.

Das ist nicht die Stelle, an der alle Tazler im Chor “Genau!” und “Richtig!” rufen würden. Denn zwar ruht die “taz” nun auf den Schultern von 4054 Genossen, der nahe Ruin aber ist ihr engster Gefährte geblieben. Die Auflage dümpelt seit Urzeiten um 60 000, auch Anzeigen und Genossenschaftskapital wachsen nur mäßig. “Dem Drei-Liter-Modell der Genossenschaft ist auf halber Strecke die Puste ausgegangen”, konstatieren die scheidenden Chefredakteure Klaudia Brunst und Michael Rediske, erschöpft von “immer mehr kurzatmigem Krisen-Management”.

Im Betrieb gibt es zwei Denkschulen in Sachen Ruch: Die eine sieht in ihm den Zauberlehrling, der stets etwas in der Hinterhand hat, eine Strategie, einen Plan. Die andere spottet: Der stopft nur Löcher, irgendwie. Was alle sagen: “Ohne Kalle geht nix und gegen ihn schon gar nicht.”

“Chefredakteure sind gekommen und gegangen”, erkannte der einst verjagte Redaktionsleiter Michael Sontheimer in einer Gesprächsrunde mit Leidensgefährten, “die Geschäftsführung ist geblieben.” Mit der Ahnenreihe der Ex-Chefs könnte die “taz” leicht einen ganzen Flur schmücken. An Ruchs stillem Beharren sind alle abgeprallt. Die Hauptkritik: Er verwalte nur den Mangel, betätige sich nicht unternehmerisch, habe nicht einmal ein Sekretariat. Nach außen, stöhnen Weggefährten, sei der Stoiker ein “Null-Kommunikator”. Was ihm die alten Gegner anrechnen: “Er kann enorm was einstecken.” Das könnte stimmen: Wohl über keinen Tazler sind mehr Jauchekübel ausgeleert worden.

Wie er das durchgestanden hat? “Ich finde es sehr sinnvoll, die Zeitung am Leben zu erhalten”, sagt er, “und ich hatte eine Position, von der ich überzeugt war; ich wusste, dass ich das immer richtig mache.” Zudem hat der arme Chef einen Vorteil gegenüber dem reichen: Er kann lachen, wenn wieder einer was will und “Woher nehmen?” rufen. Das hat Ruch schon getan, bevor es die “taz” überhaupt gab. Wenn auf den nationalen Plenen der “taz”-Initiativen mal wieder weit reichende Beschlüsse gefasst wurden, warf der milchbubige Finanzjongleur gern die Arme hoch und rief: “Beschließt nur, kann sowieso keiner bezahlen!”

So hat Kalle Ruch die Rolle behalten, die er immer innehatte: Er ist die Macht des Faktischen, der deus ex vacuo. Und wirkt dabei recht unbeschadet: “Eigentlich”, sagt er ganz unbescheiden, “hatte ich immer ein gutes Gespür dafür, was für die ‚taz” notwendig ist.” Ein Unternehmensberater malte ihm einmal ein Strichmännchen auf und fragte: “Das ist die ‚taz”, wo sind Sie?” Da hat Kalle ganz oben hingetippt und gesagt: “Ich bin der halbe Kopf.”

Doch auch er weiß nicht so genau, wie es weitergeht. “Das dritte Jahrzehnt wird inhaltlich und wirtschaftlich schwierig”, sagt er. Als die Tazler jüngst debattierten, was die Zeitung als rot-grünes Regierungsblatt noch für eine Funktion habe, warf der Geschäftsführer die Frage ein, ob sie vielleicht einfach überflüssig sei. Das scheint er ernst zu meinen: “Jetzt”, sagt er, “könnte man das noch als gute, runde Geschichte abschließen.”

Die Verluste sind vergleichsweise lachhaft: In den Achtzigern hat die “taz” insgesamt nicht einmal 1 Million Mark (510 000 Euro) in den Sand gesetzt, in den Neunzigern waren es rund 6 Millionen (3,07 Millionen Euro). Dazu würden andere nicht einmal Peanuts sagen. Wenn nur die großen Verlage und Funkhäuser Deutschlands für jeden Tazler, den sie sich aus diesem Talentschuppen holten, eine bescheidene Ablösesumme gezahlt hätten, stünde das Blatt prächtig da.

Fakt aber ist, dass die Zeitung “keine vernünftige wirtschaftliche Basis hat” (Ruch). Dass die Großverlage in Berlin einen millionenschweren Kampf um Marktanteile austragen. Aber da, sagt Kalle, die Frohnatur, “können wir ganz gelassen sein”. Ihm machten eher die “schleichenden Prozesse” Sorgen, vor allem die Erosion des alternativen Nährbodens. Oder die zunehmende Professionalisierung der “taz”, die den Unterschied zur Restöffentlichkeit immer mehr verwische.

Aber was heißt schon Sorgen? “Ich habe ja das Glück, das ich immer Glück habe”, sagt Karl-Heinz Ruch. “Und ich schlafe nie schlecht.”



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